Scendendo a Venezia

Venedig 2017

18.07.2017 Summit to Sea

  

Prolog:
Es beginnt auf einer Höhe von exakt 3000m. Der große Schaftskopf in Nauders. Ich bin gut konditioniert. Easy. Dort war ich vorgestern. 3 Kilometer tiefer, etwas weiter weg, liegt das Mittelmeer. Die letzten zwei Tage in Nauders habe ich mir diesen Berg und meinen persönlichen Arschlochberg vorgenommen, um die Reise offiziell zu beginnen. Venedig soll es werden. Aber wir müssen es noch buchen. Wetter sagt uuuuuuh igittigitt. Frances und ich also spontan geblieben. Schauen wir, was Morgen bringt.
Die Nauderer Bergbahn bringt mich und mein Fahrrad heute erst einmal bis auf 2200m hinauf. Ich vermute stark, dass ich bei meiner heutigen Mutprobe zu spät sein werde, um die letzte Bahn ins Tal zu bekommen. Gut, wenn man das Rad dabei hat, um die 14km zurück zum Ort einigermaßen schnell und einfach zu bewältigen.
Heute ist also der Arschlochberg dran. Plamorterspitze, auch knapp 3000m. Aber warum dieser niedliche Kosename? Naja, man muss wissen, dass dies der dritte Anlauf auf den Felsbrocken ist. Zweimal, nämlich 2005 und 2011, bin ich daran gescheitert, immer 50 Höhenmeter unterm Ziel. Immer packte mich die Angst, weil ich kein Seilzeug dabei hatte. Es ist ein Klettersteig. Und eben kurz vor dem ersehnten Gipfelkreuz mit ultrawichtigem Beweisstempel geht es 50 Meter senkrecht hinauf. 50 Meter. Was sind das schon bei 3000m, nicht wahr? Gut. Ich möchte denjenigen sehen, der ohne Sicherung einen Kirchturm am Blitzableiter hochklettert.
Aber heute ist es soweit. 2011 hatte ich mir schon Sitzgurt, Handschuhe und Seile gekauft. Es muss doch möglich sein, verdammt noch mal. Meine Bergausrüstung ist mittlerweile spatanisch geworden. Luna Sandalen für die Bergwege, Zehenschuhe fürs Klettern. 9 von 10 erfahreren Bergsteigern werden jetzt möglicherweise die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich für mich habe erkannt, dass ich sicherer bin, wenn ich den Berg unmittelbar spüre mit all seinen spitzen Kanten, anstatt dass meine HanWag Stiefel mit D-Klasse Sohle mich von jedwedem Gefühl zum Untergrund abschotten. Nahezu barfuß kann ich nicht umknicken oder mich verletzen, wenn ich achtsam bin. Davon bin ich überzeugt.
Je mehr ich mich dem Gipfel über eine geröllige Wand nähere, desto mehr kommt die Angst wieder. Auf dem Kamm angekommen, werden, wie damals auch, meine Hände wieder schwitzig. Die Sonne brennt, der Wind ist kalt. Die Sicht ist atemberaubend ... nein ... furchteinflößend. Wo sind die Geländer?! Alles an mir wird schwitzig. Die Angst ist wieder da. Zum dritten Mal stehe ich unter dem besagten "Kirchturm" und mein Körper weigert sich weiter zu gehen. Das kann doch nicht wahr sein. Mir ist ekelhaft heiß. Kaltes Heiß. Ich kann das gar nicht beschreiben. Ich habe das Gefühl, mich noch nie im Leben so gegen meine Angst gestemmt zu haben. Eine Riesenportion Disziplin zwingt mich dazu, meinen Wanderschlauch in einer windgeschützen Niesche zu verstauen und tatsächlich alles bis auf Laufhose und Five Fingers auszuziehen, um dem schleimigen Gefühl vermeintlicher Hitze auf der Haut zu entgehen, den Sitzgurt anzulegen und zum Steigseil zu balancieren. Wenn mich hier einer findet, werde ich als geisteskranker Kletterer begraben. 50 Meter senkrecht. 50 Schritte oder so. Von Spalte zu Spalte, Vorsprung zu Vorsprung. So zwinge ich mich über meinen Überlebensinstinkt hinweg von einer Seilhalterung zur nächsten, bis ich tatsächlich das Kreuz erreiche.
Es ist beängistend wenig Platz hier oben, nicht mal ein Quadratmeter. Also kette ich mich ans Kreuz mit einem der beiden Karabiner an. Hier bin ich also. Ich ... und der heilige Gral... Der Stempel! In meiner Welt gibt es 7 persönliche Weltwunder, die ich im Leben erreichen will. Dieser Stempel ist eins davon. Das Gefühl, das mich hier oben einhüllt, kann man schlecht begreiflich machen. Es mag einige geben, die einen Klettersteig 4. Grades für "nett" halten. Für mich ist das schiere Überwinden der Angst eine Grenzsteinverschiebung im Sinne von: Wenn ich das schaffe, dann schaffe ich alles.

10 heroische Minuten kralle ich mich an das Alukreuz. Bis die Kälte mich packt und mit riesiger Vorfreude an den bevorstehenden, gigantischen Abstieg erinnert. Also dann. Scheiß was aufs Wetter. Wenn ich das hier schaffe, dann... auf nach Venedig!