Und so ziehe ich meine Kreise in elysischen Gefilden...

Einmal im Jahr verordne ich mir Alleinzeit. Das ist mehr als Fernwandern. Die Wege sind eher ein Förderband für alles, was dann Kopfplatz einnimmt. Gedanken, Umstände, Fragen, Schreiben, Zeichnen und Musik laufen mit und ich schreibe alles auf, wie es kommt auf diese Seite. Dafür ist sie ja schließlich da. Seit Leander auf die Welt gekommen ist, bekommt solche Alleinzeit einen ganz neuen, wertvollen Gegenwert zur ebenso wertvollen Familienzeit. Das eine bekräftigt das andere, jedes Jahr ein kleiner Kreis auf den Inseln der Seligen. Nur einen Weg mit dem Namen "Trans Canarias" gibt es eigentlich nicht. Der Weg selbst ist für mich nur das nächste Kapitel nach dem Trans Kreta (E4) bezogen auf meine eigene Vorstellung des minimalistischen Wanderns über ein Wanderwegnetzwerk rund um den E7, das sich über die kanarischen Inseln verteilt. Also nenne ich ihn so. Vor einigen Jahren, ich glaube Anfang der 2000er, hat man den Entschluss gefasst die Inseln mit Wanderwegtraversen und Umrundungen auszustatten. Manche existieren bis heute hin in einem außerordentlich guten Zustand. Nur die vielen Schilder sind der UV-Strahlng zum Opfer gefallen. Aber wer braucht die denn in Zeiten von Smartphones und GPS Tracks noch. Seit Jahren folge ich den Routen anderer aus dem Netz oder baue mir meine eigenen per Streetmaps, wenn es sie nicht gibt.
La Gomera wurde der Anfang. Alle anderen Inseln folgen, wenn die Zeit es zulässt. Mal sehen wie und wann. Aber jede der Strecken ist in ein bis zwei Wochen gut für mich ohne Zeitdruck zu schaffen. Die Winter sind wie Frühling, ein perfektes Nebensaisonziel also, auch um meine Spanischbröckchen zu erhalten. Ich habe fast kein Gepäck und wandere weitgehend barfuß. Es klingt sicherlich esoterisch, aber es fühlt sich gut an auf meinen angeborenen Sohlen die Erde zu begreifen. Es ist ineffizient, es tut manchmal auch weh und ich werde immer wieder mal gefragt, warum das denn sein muss. Es muss aber nicht sein, ich will es so. Seit 2011 fasziniert mich der Gedanke, mich gerade beim Fernwandern so zu bewegen, wie die Natur es vorsieht. Bislang habe ich keine Ablehnung deshalb erfahren. Eher verwundertes Interesse. Bei meinen Begegnungen erscheine ich sogar nahbarer. Viele Leute vergessen regelrecht ihre Hemmungen und sprechen mich gerade heraus darauf an. Selbst zu Hause scheint es viel einfacher zu sein, ein vorurteilsloses Gespräch mit jemandem Fremden wie mir zu beginnen, wenn er keine Schuhe mehr an hat. Eine Abnormalität dieser Art schafft offenbar (Selbst)Vertrauen. "Der muss sich Gedanken gemacht haben." Und wer sich Gedanken macht, kann ja kein schlechter Mensch sein...
Kinder fragen im Vorbeigehen ganz häufig lautstark ihre Eltern, warum "der Mann da mit Barfuß" läuft. "Weil es gesund ist", höre ich erstaunlicherweise fast immer als Antwort. Die damit verbundene Ineffizienz ist etwas, das mich gesund macht und es befreit meinen Kopf, wenn der gedankliche Fokus nicht weiter als bis zum nächsten Schritt reicht. Behutsam und denkbar langsam finde ich meinen Weg durch einen einzigen, großen Sinnesgarten. Mich begleitet dabei auch der Reiz, die industrialisierte Outdoor- und Urlaubs-Effizienz in Frage zu stellen und mich selbst körperlich herauszufordern. Ich behaupte, dass Körper und Geist ausgeprägte Fähigkeiten mitbringen, um sich an Hitze, Kälte, Gelände, Hunger und Durst so anzupassen, dass die kanarischen Wege von der Küste bis hinauf auf die Gipfel auch ohne die gewohnten, alltäglichen, durchoptimierten Hilfsmittel begangen werden können. Gesellschaftsbedingt ist unsere Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit oft unterfordert. Wir brauchen nicht viel, aber wir brauchen wieder ein natürliches Gefühl des Mangels, um zum geistigen Frieden zu finden. Davon bin ich überzeugt.
Ein paar Unausweichlichkeiten lassen sich dennoch nicht wegphilosophieren: Das Auskühlen im Schlaf beispielsweise. Auch gegen scharfkantiges Vulkangestein auf längeren Strecken habe ich von Natur aus trotz trainierter Fußsohlen auf Dauer zu wenig entgegenzusetzen. Zur Entlastung habe ich dann dünne Vibramsohlen, die mit Gummischnüren an großem Zeh und Ferse gehalten werden. Die Gummis reißen alle 100km. Die Sohle hält hingegen wohl noch 100 Jahre. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie wenig Abrieb eine natürliche Laufbewegung verursacht. Muss es doch mal schnell gehen oder sollte ich mich verletzen, kommen Huaraches zum Einsatz. Meine Kleidung beschränkt sich beim ewigen Frühling der Kanaren auf gesellschaftskonforme Hemd und Shorts in den Ortschaften, Badehose am Meer und auf den Wanderwegen und im Abgeschiedenen schlicht auf die eigene Haut. Ich sollte mich in ihr wohlfühlen. Setzt natürlich voraus, dass Kondition, Koordination, Wasserhaushalt und UV Schutz passen. Wir Mitteleuropäer sind nunmal von Natur aus bleich und dass uns Hautpigmente allein vor Strahlung schützen ist ein Trugschluss.
Es gibt abseits der Bettenburgen am Strand so viel Schönes, teils Privates, zu entdecken. Echte Kanaren vielleicht. Das ist alles so simpel geworden mit Internet. Mein GPS-Track ist allerdings ein Luxus, auf den ich mich in erster Linie nicht verlasse. Geht das mobile Rechenzentrum kaputt, sollte ich auch analog im Stande sein den Weg zu finden. Nachts auf einem stockfinsteren, spärlich markierten Wanderweg stecken zu bleiben kann als Zivilisationsgeschädigter seeehr hilflos machen. Und die Sonne geht hier sehr schnell unter...

Senderos de Gran Recorrido (GR)

Die großen Langstreckenwege mit der Bezeichnung GR sind in vielen Ländern Europas zu finden. Auf den Kanaren befinden sich - mehr oder weniger - sieben von ihnen. Drei werden instand gehalten, weitere drei wurden nur projektiert oder aufgegeben:









Jeder Weg umrundet eine Insel, mit Ausnahme des GR 131. Dieser ist auch Teil des E7 und überquert mit einer Gesamtlänge von 355km jede Insel in einer Richtung. Auf Fuerteventura macht eine Umrundung keinen Sinn. Dort ist er der einzige GR von Nord nach Süd. Während meiner Wanderungen versuche ich Rund- und Längsweg miteinander zu verbinden, denn oftmals führt der 131 weit ins landesinnere auf die Berge und Nationalparks.
Bis 2020 habe ich mich den offiziell existierenden Wegen gewidmet. Eine besondere Herausforderung stellt jetzt jedoch die Rekonstruktion des GR 133, 134 und 135 dar. Diese Wege existieren als solche nicht oder nicht mehr und bestehen vielleicht noch aus haltlosen Teilstücken. Ich versuche bis zur nächsten Reise regelrechte Internetarchäologie durchzuführen, um einen GPS-Track daraus zu rekonstruieren. Ein wenig Erfahrung darin konnte ich mit der Erstellung meines kretischen Küstenwegs sammeln. Das Ganze entwickelt sich zu einer spannenden Detektivarbeit durch teils 10-20 jahre alte Forenbeiträge und die Internet Wayback Machine auf der Suche nach brauchbaren Datenruinen. Los ging es mit dem GR 135 als reiner Küstenweg. Immerhin der Blick aus dem All zeigte als feine Linie durch die Vulkanlandschaft, dass er irgendwie schon da ist oder war. Tatsächlich lässt sich die ganze Insel entlang der Küste auf Bruchstücke und Teilwegen umrunden.
Dagegen geht es ohne Küste auf dem Höhenweg GR 133 in einer großen Schnecke bis hinauf auf den Teide, dessen Teilstücke teilweise schon Jahre brach liegen. Nur der GPS-Track und Steinmarkierungen zeigen an, dass hier mal gepflegte Infrastruktur war, die bewusst entwidmet wurde.
Der GR134 ist auch im Internet eher ein Mysterium. Es gibt nur eine einzige Quelle, die ihn mit Namen erwähnt. Doch die Route eines solchen Weges gibt die Inseltopographie quasi von selbst vor. Es gibt wenige Alternativen für einen Rundweg und so konnte ich ihn mit technischen Hilfsmitteln schon herkonstruieren.
El Hierro hingegen hat einen Rundwanderweg, der zwar nicht dem GR-Netz zugeordnet wurde, aber dennoch als Sendero Circular bezeichnet wird. Mein Weg endet am Anfang: Der westlichste Leuchtturm der Kanarischen Inseln ist der Ausgangspunkt der kanarischen Inselwege GR 131 und des E7.