Etwas ist neu. Ich bin jetzt Teil einer Familie. Das ist schön, aber auch fordernd und raumeinnehmend. Einmal im Jahr verordne ich mir daher Alleinzeit. Das ist jetzt mehr für mich als Fernwandern. Ich will mich selbst kompromisslos wahrnehmen und schaffe mir dafür eine egozentrische Blase abseits der Familie. Die Wege sind dabei ein Förderband für alles, was dann Kopfplatz einnimmt. Sinne, Gedanken, Umstände, Fragen, Schreiben, Zeichnen und Musik laufen mit und ich schreibe alles auf, wie es kommt auf diese Seite. Das hat mal direkt mit den Inseln zu tun, mal sind sie nur ein Katalysator für anderes, das raus kommt, wenn ich alleine bin und Zeit für mich habe. Seit Leander auf die Welt gekommen ist, bekommt solche Alleinzeit einen ganz neuen, wertvollen Gegenwert zur ebenso wertvollen Familienzeit. Das eine bekräftigt das andere. Jedes Jahr ein kleiner Kreis auf den Inseln der Seligen. Aber einen einzigen Weg mit dem Namen "Trans Canarias" gibt es eigentlich nicht. Ich habe ihn so getauft. Der Weg selbst ist für mich nur das nächste Kapitel nach dem Trans Kreta (E4) bezogen auf meine eigene Vorstellung des Wanderns. Ich habe ihn drei Monate lang, verteilt auf 7 Jahre, begangen und dabei auch die Kultur und die dort lebenden Menschen kennen gelernt. Die Wege sind ein Wanderwegnetzwerk bestehend aus Inselumrundungen und -traversen, das sich über die kanarischen Inseln erstreckt. Vor einigen Jahren, ich glaube Anfang der 2000er, hat man den Entschluss gefasst die Inseln für den ambitionierten, durchaus alpinen Wandertourismus zu erschließen. Manche der Wege existieren bis heute hin in einem sehr guten Zustand. Nur die vielen Schilder sind der starken UV-Strahlng und salzigen Korrosion zum Opfer gefallen. Aber wer braucht die denn in Zeiten von Smartphones noch. Seit Jahren folge ich GPS-Tracks oder baue mir meine eigenen per Streetmaps, wenn es sie nicht gibt.
La Gomera wurde der Anfang. Alle anderen Inseln folgten, wenn die Zeit es zuließ. Aber jede der Strecken war in ein bis zwei Wochen gut für mich ohne Zeitdruck zu schaffen. Die Winter sind wie Frühling, ein perfektes Nebensaisonziel also, auch um meine Spanischbröckchen zu erhalten. Ich habe fast kein Gepäck dabei und ich wandere weitestgehend barfuß oder auf selbst gemachten Huachares. Es klingt sicherlich esoterisch, aber es fühlt sich gut an auf meinen angeborenen Sohlen die Erde zu begreifen. Es ist ineffizient, es tut manchmal auch weh und ich werde immer wieder mal gefragt, warum das denn sein muss. Es muss aber nicht sein, ich will es so. Seit 2011 fasziniert mich der Gedanke, mich gerade beim Fernwandern so fortzubewegen, wie die Natur es vorsieht. Bislang habe ich keine Ablehnung deshalb erfahren. Eher verwundertes Interesse. Bei meinen Begegnungen erscheine ich sogar nahbarer. Viele Leute vergessen regelrecht ihre Hemmungen und sprechen mich gerade heraus darauf an. Selbst zu Hause scheint es viel einfacher zu sein, ein vorurteilsloses Gespräch mit jemandem Fremden wie mir zu beginnen, wenn er keine Schuhe mehr an hat. Eine Abnormalität dieser Art schafft offenbar (Selbst)Vertrauen. "Der muss sich Gedanken gemacht haben." Und wer sich Gedanken macht, kann ja kein schlechter Mensch sein... Kinder fragen im Vorbeigehen ganz häufig lautstark ihre Eltern, warum "der Mann da mit Barfuß" läuft. "Weil es gesund ist", höre ich erstaunlicherweise fast immer als Antwort. Die damit verbundene Ineffizienz ist etwas, das mich gesund macht und es befreit meinen Kopf, wenn der gedankliche Fokus nicht weiter als bis zum nächsten Schritt reicht. Behutsam und denkbar langsam finde ich meinen Weg durch einen einzigen, großen Sinnesgarten. Mich begleitet dabei auch der Reiz, die industrialisierte Outdoor- und Urlaubs-Effizienz in Frage zu stellen und mich selbst körperlich herauszufordern. Ich behaupte, dass Körper und Geist ausgeprägte Fähigkeiten mitbringen, um sich an Hitze, Kälte, Gelände, Hunger und Durst so anzupassen, dass die kanarischen Wege von der Küste bis hinauf auf die Gipfel auch ohne die gewohnten, alltäglichen, durchoptimierten Hilfsmittel begangen werden können. Gesellschaftsbedingt ist unsere Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit oft unterfordert. Wir brauchen nicht viel, aber wir brauchen wieder ein natürliches Gefühl des Mangels, um zum geistigen Frieden zu finden. Davon bin ich überzeugt. Ein paar Unausweichlichkeiten lassen sich dennoch nicht wegphilosophieren: Das Auskühlen im Schlaf beispielsweise. Auch gegen scharfkantiges Vulkangestein auf längeren Strecken habe ich von Natur aus trotz gut trainierter Fußsohlen auf Dauer zu wenig entgegenzusetzen. Zur Entlastung habe ich dann dünne Vibramsohlen, die mit Gummischnüren an großem Zeh und Ferse gehalten werden. Die Gummis reißen alle 100km. Die Sohle hält hingegen wohl noch 100 Jahre. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie wenig Abrieb eine natürliche Laufbewegung verursacht. Muss es doch mal schnell gehen oder sollte ich mich verletzen, kommen Huaraches zum Einsatz. Meine Kleidung beschränkt sich beim ewigen Frühling der Kanaren auf Hemd, Shorts, Wickelrock und Badehose in den Ortschaften und belebten Gebieten. Auf den häufig abgeschiedenen Wegen reicht mir schlicht die nackte Haut. Also sollte mich auch in ihr wohlfühlen. Eine gute Kondition, der Wasserhaushalt und ein starker UV-Schutz sind wichtig. Wir Mitteleuropäer sind häufig von Natur aus bleich und dass uns Hautpigmente allein vor Strahlung schützen ist ein Trugschluss. Es gibt abseits der Bettenburgen an den bekannten Stränden so viel Schönes, teils Privates, zu entdecken. Eben auch mal die echten Kanaren. Das ist alles so simpel geworden mit Internet. Mein GPS-Track ist allerdings ein Luxus, auf den ich mich nicht gänzlich verlasse. Geht das mobile Rechenzentrum kaputt, sollte ich auch analog im Stande sein den Weg zu finden. Nachts auf einem stockfinsteren, spärlich markierten Wanderweg stecken zu bleiben kann als Zivilisationsgeschädigter seeehr hilflos machen. Und die Sonne geht hier sehr schnell unter... |