Die Sache mit der Selbstverwirklichung fällt mir bis heute nicht leicht. Erst recht, weil es in jeder Öffentlichkeit Publikum gibt, das mich potentiell be- und verurteilen könnte. Selbst wirklich werden. Was ist das überhaupt für ein esoterisches Gerede? Wirklich sein... ich bin doch immer wirklich. Ich weiß doch, wer ich bin. Reicht das nicht? Ich begreife nur schlecht den Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Immer wieder vermengt sich meine Vorstellung davon, was wirklich wahr und wirklich wirklich ist. Sieht man mich so, wie ich gesehen werden will? Mache ich mir ständig selbst einen vor? Was treibt mich wirklich an? Oder lasse ich mich fremdantreiben? Was denken die Leute über mich? Und darf ich überhaupt tun, was ich wirklich will? Seit ich ganz klein bin, habe ich einen Drang, einem kindlichen Idealzustand hinterherzurennen. Etwas oder jemand, der ich sein könnte. Das ist eigentlich ganz Einfach: Dieser Jemand ist nichts mehr als ein gleichmütiger, ruhiger und zufriedener Junge. Eine Stimme behauptet, ich könne er werden. Einfach so! Es ist meine Entscheidung! Ich glaubte das nicht. Aber ich müsste es doch eigentlich glauben, ihn einfach annehmen. Aber was oder wen denn annehmen? Ich musste mich immer wieder aus dem Gedankenstrudel regelrecht herausschütteln und wurde sogar richrtig sauer... als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben als solche Gedankenblasen. Manchmal kam ich nah an den Jungen heran, jedoch eher wie an einen Wandspiegel und stand direkt davor und starrte unglücklich und ungläubig hinein. Ich wollte das, was ich ständig zu sehen bekam, am liebsten gleich wieder kaputt machen: Ich schaute in ein Spiegelbild, das meinem Äußeren nicht entsprach, eben dieses idealisierte Bild. Es ist mir bis heute vertrauter als mein eigentliches, reales Selbstbildnis und das, was andere von mir sehen. Dieses Bild begann sich von mir zu lösen und hat sich seitdem ich Kind war nicht verändert:
Vor mir steht das Idealbild eines etwa zwölf Jahre alten, selbstbewussten Jungen mit langen, blonden Haaren, der nicht eindeutig in seinem Geschlecht verankert ist. Er befindet sich in einer sphärischen Landschaft, die vom reflektierenden Licht zweier, riesiger Monde erhellt wird. Der eine rot, der andere blau. Er ist meine utopische Vorbildfigur, ein Held und ein Leitthema eines verwirklichten Selbst, das ich mir nur schlecht eingestehen wollte, vor allem, weil es mir peinlich war: Der Junge ist groß und umschlungen von bunten Bändern in allen Spektralfarben und wandert barfuß durch Welten abseits unserer. Egal wie unwegsam es ist, es hat ihm nichts an. Er verschmilzt mit der Umgebung, den Kopf in den Sternen. Er sieht mich mit ruhigen Augen an: Ich bin du. Wir gehören zusammen. Wir schauen auf zwei Monde, die ein und derselbe sind, nur aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet.
Über die Jahre bin ich älter geworden. Der bunte Junge nicht. Immer wieder nimmt er Raum in meinem Bewusstsein ein und sieht mich freundlich an. Und jedes mal schämte ich mich vor diesem Gedankenbild. Als Kind war es furchtbar. Schäm-Attacken habe ich es immer genannt. Ich wollte, dass er wegsieht. Er darf mich nicht ansehen. Ich möchte er sein, aber das darf ich nicht. Das bin ich nicht. Ich wurde regelrecht wütend und eifersüchtig auf ihn. Das ist doch ein Fabelwesen. Sieht doch aus wie so'n Indianer, der blöde Junge. Fehlen nur noch die Federn. Er ist doch eigentlich lächerlich mit all den Farben und alle würden ihn auslachen, wenn er hier so herumlaufen und sich so entblößen würde. Er sieht eigentlich aus wie ein Mädchen, das mit Regenbogenflatterbändern umhertanzt. Als Junge würde er sich zum Kuriosum machen mit dem niemand was zu tun haben will. Jungen machen das nicht. Er bliebe für immer ein Außenseiter. Nicht zugehörig. Aber er wäre nicht angreifbar. Leg ihm Scherben vor die Füße, er verletzt sich nicht. Ich habe gelernt, das Bild dieses Jungen als irreal zu verbannen und das tat weh. Ich bin das sowieso niemals. Ich habe ein Hohlkreuz, Plattfüße laut U-Heft, nen Kurzhaarschnitt, kurz und stufig, praktisch. Ich muss artig sein. Der Art entsprechen. Der Junge ist kitschig bunt und darf keinen Platz haben... tagsüber, wenn ich funktionieren muss jedenfalls. Dann, wenn mir gesagt wird, ich soll nicht ständig rumträumen, dass ich schusselig bin und schön gerade stehen soll. Bauch rein! Nur Abends, wenn ich im Bett liege, es dunkel ist und mich keiner sieht, er mich nicht sieht... ich mich selbst nicht sehe, dann würde ich die Augen zumachen und insgeheim hoffen, dass er auftaucht und wieder vor mir steht, ohne dass er mich sehen kann. Und da stand er immer wieder, fast jeden Abend und blieb, bis ich eingeschlafen war. Ab und an verwob er sich mit meinen Träumen, die Tags darauf Gefühle in mir hinterließen, die intensiver als die realen Gefühle waren. Ich hätte häulen können. Können wir nicht wenigstens Freunde werden?
Vor einiger Zeit habe ich die Kindergartenfotos bei meinen Eltern wiedergefunden und mit Erstaunen ins Gedächtnis zurück gerufen, dass es durchaus sichtbare Übereinstimmungen mit diesem Jungen gab, in der echten Welt. Schon 1984, 1985 und 1986. Ich kann mich sogar wieder erinnern. Karneval im Kindergarten. Wir dürfen uns verkleiden. Ich verkleide mich dort als Mädchen mit Kleid, Hut und Schminke. Es fühlte sich richtig an. Später dann nicht mehr, weil mir das Kleid zu klein wurde. Das war ansich nicht schlimm, aber ein kleiner Frust blieb zurück, der anwuchs. Ich habe jedem Mädchen hinterher geschaut, das im Sommer ein Kleid trug und wurde immer neidischer. Ich wollte keine Mädchen als Freunde, ich wollte ein Mädchen sein, denn es kam meinem Vorbild des bunten Jungen im echten Dasein am nächsten. Aus Neid wurde schließlich auch Wut: Wenn ich schon kein Kleid oder Röcke tragen kann und barfuß laufen vermeintlich gefährlich ist, alle mich auslachen würden und ich auch das nicht darf, dann mache ich mich halt lustig darüber. Also rannte ich den Mädchen hinterher, ärgerte sie, zog ihnen die Röcke hoch. Sie kreischten, fanden das garnicht lustig. Und ich hatte immerhin negative Aufmerksamkeit, stand über dem bunten Jungen. "Ich bin stärker!" Auf dem Gymnasium wurde das schließlich zu einem handfesten, gesellschaftlichen Problem in der Klasse, bis es schließlich Beschwerden beim Direktor gab. Da war ich dann schließlich auch zwölf und es traf mich ein harter Erkenntnishammer, dass ich so eigentlich niemals sein wollte und ich mich nur betäube und selbst betrüge. Ich bekam panische Angst allein zu sein, wurde unsicher und still. Ich habe kaum ein Guten Tag zu anderen Leuten herausbekommen. Mädchen machten mir Angst, in der Schule war ich sowieso als Mädchenschreck abgestempelt. Ich wurde gemieden von dem Geschlecht, das ich anziehend fand, das mich faszinierte und ich war auch noch selbst verantwortlich für das Dilemma. Computer und Kunstunterricht wurden stattdessen meine besten Freunde. Mit Tasten oder Stiften in den Fingern konnte ich mich stundenlang verlieren, Fantasien ausdrücken und unerfüllte Sehnsüchte ausleben. In den rechteckigen Grenzen von Bildschirm und Papier würde man mich in Ruhe lassen. Hier konnte ich jemand sein, der ich wirklich sein wollte. Mit jedem Bild zeichnete ich mir Mal um Mal den bunten Jungen herbei. Mit sachgründigem Erfolg sogar: Kunst war mein bestes Fach in der Schule. In der Disziplin war ich bis zur Oberstufe Primus, 15 Punkte, keiner kam an mich ran. Und ich wurde Informatiker. Seelenfutter und verdiente Brötchen vereinten sich zu einem hexadezimalen Regenbogen, der sich schützend über mir aufspannte, virtuell, aber mit sichtbaren Artefakten. Ich verteidigte sie gegen alle Stimmen, die Kunst als brotloses Nebenfach diffamierten.
Das Internet der 90er Jahre brachte schließlich auch für vermeintlich Brotloses einen Raum, den man teilen konnte und der ernst genommen wurde. Der Schämjunge konnte sich in Chats und sozialen Profilen hinter einem Avatar verstecken und dennoch zeigen. Erst als ich über dreißig wurde und meine erste, langjährige Beziehung verlor, merkte ich langsam, dass echter Kontakt mit echten Menschen erstrebenswerter ist. Die Trennung schaffte ein angsteinflößendes Vakuum der vermeintlich niemals enden wollenden Einsamkeit. In Wirklichkeit war es nur ein formatierter Speicher, der darauf wartete, beschrieben zu werden. Ich war mittlerweile in meinen eigenen vier, viel zu großen Wänden. Selbstständig im Leben. Wer soll mir denn schon was sagen? Was mir erst Angst vor dem allein bleiben machte, wurde zur Neugier: Licht an. So, mein bunter Junge, dann zeig dich. Hier bin ich.
Ich bekam Stück für Stück Lust von mir zu erzählen. Ich erzähle es eigentlich dem Jungen. Er hört zu und sitzt neben mir und will das alles immer wissen. Das alles steht in einem Tagebuch, der Webseite. Andere Leute wollten das überraschenderweise sogar mitlesen, was ich zu sagen hatte. Es fing mit dem Jakobsweg an. Jemand sagte mir, nachdem ich vom Camino zurückgekehrt war, er gebe stolz damit an, mit jemandem befreundet zu sein, der den Jakobsweg so erlebt habe.
Je mehr ich erzähle, desto mehr fordert sich der bunte Tu-was-du-willst-Junge ein. Ist das zwanghaft und obsessiv oder endlich wieder richtig? Er drängt sich jetzt offen und energisch in den Vordergrund und verschmilzt mit dem mittlerweile über vierzigjährigen Jungen vor dem Spiegel zu einer Einheit. Diese ebenso kitschig bunte Aussage, dass man so sein muss, wie man sich fühlt, um erkannt und akzeptiert zu werden, wird langsam wirkliche Erfahrung. Ich kann jetzt akzeptieren, dass diese Aussage stimmt. Mittlerweile sind meine Haare lang, auch wenn sie langsam graue Stränen bekommen. Ich bin spät dran, aber das ist in Ordnung. Ich trage wieder Röcke wie im Kindergarten, laufe barfuß durch den Sinnesgarten Welt, die mir nichts mehr anhaben kann, werde bunt wie die Lichtreflexionen in Opalsteinen, ziehe sogar Blicke auf mich und schäme mich nicht mehr - gegen meine Erziehung - der zwölfjährige, bunte Junge zu werden, der sich nach Jahrzehnten endlich für alle sichtbar in mir selbst manifestieren darf. Nicht mehr nur als ein Spiegelbild, das ich nicht aushalten konnte, sondern als wirkliche und wahre, ungespaltene Persönlichkeit. |