Sendero Circular de El Hierro

18.04.2024 Malpaso

  

Halb Zehn schon. Ich könnte mich an den Höhlenschlummer mit Meeresrauschen gewöhnen. Aber heute liegt viel Anstieg vor mir. Wir trödeln dennoch bis 11 Uhr herum. Hmmm... ob das wohl an fehlender Motivation oder der Aussicht auf einen anstrengenden Anstieg zum Auto mit Rollkoffer liegt?!
Das Servicemobil setzt mich in San Andres bei der Kreuzung der beiden GR-Wege ab. Noch schnell ein Küsschen und winke winke, verlangt Leander und tschüüüß! Mein Weg führt weiter durch die Highlands von El Hierro direkt in den Fichten- und Lorbeerwald, der ab 1100 Meter Höhe beginnt. Es wird feucht. "Horizontale Bewässerung" macht es möglich, lese ich. Und was genau das bedeutet, lässt sich heute mit einem Blick über die 1 Kilometer hohe, senkrecht abfallende Klippe sofort in Echt feststellen. Wo ich gestern noch bis hinunter ins Tal schauen konnte, ersteckt sich jetzt ein Wolkenwattemeer in der gesamten Bucht. Die Feuchtigkeit der Wolken macht den Wald erst möglich. Langsam aber stetig wabert sie gegen die Wand nah oben, um sich im späteren Tagesverlauf über den Bergkamm auf die Südseite hinabzuwälzen und zu verdunsten. Auch Frances und Leander tummeln sich hier oben herum und so fahren sie auch irgendwann an mir vorbei. Mein Weg hat den unschuldigen Namen "Camino de la Virgen" und führt direkt über Malpaso, den höchsten Punkt der Insel. Es ist kühl und bewölkt. Endlich mal keine schweißtreibende Angelegenheit, meine zwei Liter Wasser hätte ich weglassen können. Es ist eher ein Spaziergang durch den Park... im wörtlichen Sinne sogar. Die Fichten rauschen und die Vögel zwitschern laut durch den Moosdschungelwald.
Vieles gleicht einer natürlich gewachsenen Parklandschaft, in die nur noch ein paar Schilder gestellt werden mussten. Aber es lassen sich auch kleine, überwaldete Krater ausmachen, die keinen Zweifel daran lassen, dass es auch hier unter der Oberfläche brodeln kann. Niemand ist hier, nichtmal Autos auf der Gebirgsstraße. Zwei Wanderinnen begegnen mir zwischenzeitlich. Ansonsten habe ich alles für mich allein hier oben. Eine gute Entscheidung war es, oben zu bleiben. Im Tal ist schwüle Wolkensuppe, hier oben ist es trocken und klar. Je mehr ich mich dem Malpaso Gipfel auf 1501 Höhenmetern nähere, umso mehr Schwalben und sehr neugierige Raben umkreisen mich, wie schon auf vielen anderen Gipfeln der Kanaren. Sie kündigen quasi schon an, dass es nicht mehr höher gehen wird. Mir soll's recht sein. Die Sehne lässt mehr als 12 Kilometer einfach nicht zu und ich bin froh, einfach Frances anrufen zu können. Ich will auf dem Malpaso heute den Schnitt machen. Eine Piste führt direkt dorthin zu einem Antennenmast und Frances kann mich direkt vom Gipfel abholen. Wie dekandent. Da lohnt sich das Gipfelselfie fast garnicht, wenn alles so einfach ohne Blessuren geht. Leander hat sich derweil das Leben schon etwas schwer gemacht, verrät sein Knie. Zur Wunde vom Anfang der Wanderung haben sich drei weitere gesellt und nehmen jetzt quasi das ganze Knie ein. "Papa, wir müssen das jetzt gleich ausspülen, stimmt es?" Ah, Leander hat die Erkenntnis aufgenommen, dass Wasser auf Wunde nicht schlimm ist. Für ihn ist das gerade irgendwie nur ein Unstand wie müde sein oder so. Nicht der Rede wert, heilt ja. Hmm... bemerkenswert.
Wir fahren die HI-1 bergab unter die Wolkendecke bis zu unserer heutigen Unterkunft in Frontera, die einer Elektrofachhändlerin gehört als Nebenerwerb. Wir kündigen uns zwischen Waschmaschinen und vergilbten Technikkram, der hier wohl schon länger in der Auslage der UV Strahlung ausgesetzt ist, an. Valeria, die zwölfjährige Tochter, passt auf den Laden auf, während Mama uns die Wohnung über dem Geschäft samt Poolanlage zeigt. Eine normale Wohnung mit normalen Holzimitatmöbeln, Holzimitatfliesen und dem typischen kaltweißen Licht aus billiger LED Funzelbeleuchtung aus einfachen Deckenlampen. Aaaaha, die Zivilisation hat uns wieder. Bloß keine Gemütlichkeit aufkommen lassen. Keine Ahnung warum, aber spanische Ferienwohnungbesitzer haben nicht das geringste Gespür für Details, die aus ner 8 ne 10 machen. Das ist nicht viel. Egal, ab in den Pool, ich will sauber werden und meine Sehen abschwellen lassen. Leander benetzt seine Wunde vorsichtig mit Wasser, um dann doch mit einem gewaltigen Platsch ins Nass einzutauchen. Es brennt halt erst immer. Aber das kennt er jetzt schon und hat keine Angst mehr.
Danach wollen wir essen gehen. Es gibt was zu feiern: Frances hat ihre letzte Hausarbeitsnote bekommen und jetzt - ungeachtet der andtehenden Masterarbeit - einen Gesamtschnitt von 1,0. Das geistige Nebenprojekt namens Studium geht langsam zu Ende... mit einem möglichen Numerus Clausus. Hm. Ich habe für eine Eins immer kämpfen müssen und sehr selten eine realisiert. Außer in Kunst. Niemand hat je an meinen 15 Punkten gerüttelt, das war meine Disziplin. Aber mir wurde lange genug eingeredet, dass das nur ein billiges Nebenfach ist, dass ich dem während meiner Schulzeit keine Bedeutung beigemessen habe außer der, dass das Fach verlässlich meinen Notenschnitt in den guten Bereich treibt... also 2,5. Interessiert jetzt nach 25 Jahren auch keine Sau mehr. Außer mein Unterbewusstsein des Nachts. Habe letzte nacht tatsächlich von einem Stufentreffen geträumt, an dem alle so waren wie früher, in den selben Cliquen rumhingen und ich der Einzelgänger war, der sich vergeblich einen abmüht dort reinzupassen. Ein Scheißtraum. Träume öfter solche Szenarien. Muss eine alte Angst sein, die sich stetig hervorträumt, genso wie Träume von unbezwingbaren Klausuren und schlechten Noten. Ach jaaa, die gute alte Schulzeit, die für mich vor allem alt, aber nie wirklich gut war. Umso schöner, wenn der Lebenspartner gerade alles abräumt, was geht, sodass man den Eindruck gewinnt, sie wäre gänzlich überqualifiziert fürs Studium. Ein fairer Ausgleich.
Wir feiern in einem klassisch einheimischen Restaurant, wo vorne die Bar ist und kmim hinteren Trakt, verbunden durch einen halbrunden Tunnel, das Comedor. Es ist toll. Die Frau brutzelt uns ein herrliches Gericht aus Pilzen und Garnelen in Knoblauch und eine Meeresfrüchtepfanne gefolgt von Käsekuchen. Dazu Weißwein und entliche Finos, bis der Kopf sich dreht. Die Köchin schaut Leander schräg an, ob er was anderes essen will. Will er aber nicht, er hat schon die Hälfte der Oliven verdrückt und macht sich über die Pilze, Garnelen und Muscheln her. "Ich liebe Muscheln!" Wer braucht da schon Pommes?! Ich würde ja gern "mein Sohn" prahlen, aber Papa war in dem Alter eher das Pommeskind. Trotzdem freue ich mich, dass er on Bezug auf Essen experimentierfreudig bleibt. Ich vertrete die Ansicht, dass er grundsätzlich alles gut findet, was wir Eltern gut finden. Er schaut auf unsere Mimik, und empfindet danach. Also, immer schön grinsen, dann ist er bald Gras auf der Wiese. Muhaha.
Jetzt nur noch das stetige Hinauszögern des Ins-Bett-gehens überstehen, dann kann Morgen kommen.