Sendero Circular de El Hierro

Die Zeiten ändern sich

  

Die letzte der Hauptinsel will geplant werden. Diesmal wird es anders, denn wir sind dreisam. Seit ich vor 6 Jahren mit den kanarischen Inselumrundungen begonnen habe, hat sich rund um uns herum viel gewandelt. Seit Leander geboren wurde, waren die Wanderungen meine bewusste Familienauszeit. Jetzt ist er 5 Jahre alt und kein Umstand mehr, auf den wir bislang vor allem acht geben und aufpassen mussten, der verwaltet und gemanagt werden musste. Er war als Kleinkind natürlich auch toll und süß und wichtiger Teil unseres Lebens, aber machte eben auch jede einsame oder zweisame Aktivität zu einem seltenen Erlebnis, das komplexe Koordination voraussetze, wenn wir es nicht einfach resigniert aufgeben wollten, an uns beide zu denken. Ich habe immer mal gesagt, dass wir als Eltern vielleicht zehn Jahre zu alt sind und wir mit Anfang dreißig anders damit umgegangen wären. Manchmal komme gerade ich mir bequem vor. Bequem darin, meine Wohlfühlzone vor Leander zu viel Stellenwert beizumessen. Andere Familien schaffen das doch sogar mit mehr als einem Kind, sogar mit vollständiger Erfüllung, ohne einen Mangel oder eine Sehnsucht jenseits der Familie zu empfinden... oder zuzulassen?! Aber die Zeiten ändern sich. Schnell. Leander haben wir jetzt in etwa eine Grundschul-Zeitspanne in unserem Leben. Er wird mehr und mehr zu einem Lebenspartner, der die Welt mit bilderbuchhafter Begeisterung entdeckt. Alles ist für ihn neuerdings mit unzähligen Fragen besetzt. Alles muss benutzt, beklettert, bespielt und begriffen werden, nur um neue Fragen aufzuwerfen, die wiederum begriffen werden wollen. Es ist herrlich anstrengend, vor allem seine Beharrlichkeit dabei. Er steckt mich mit dieser kindlichen Begeisterung an. Wir haben jeweils unsere eigenen Vorlieben. Frances bastelt, malt und liest viel mit ihm. Mein Fokus liegt sehr auf draußen, Bewegen und Grenzen ausloten. Vieles, was er denkt, fühlt und ausdrückt, ist mir sehr vertraut. So war ich auch mal... 1984. Und ich versuche ihm auf dieser Ebene zu begegnen, weil ich es dadurch selbst wieder fühle.
Auch der Waldkindergarten hat sehr viel verändert. War es vor eineinhalb Jahren noch ein Krampf, ihn für eine Wanderung von mehr als 500 Metern zum Spielplatz zu motivieren, weiß er jetzt um seinen Wald mit seinen Forschungsstätten, die während des Alltags mit seinen Kindergartenfreunden quasi ein zweites zu Hause geworden sind, mit Tipis, Hangelparcouren, Schlammrutschen, Steiltreppen, Fledermäusen in Bäumen und dem Förster, mit dem man durch Waldarbeit zum Mitarbeiter des Monats werden kann. Die 20 Kinder und drei Erzieher sind in ihrem Waldhäuschen eine eingeschworene Gemeinschaft. Wenn ich manchmal die Elternbeiratsgruppe bei Whatsapp lese und es mal wieder um die unerträglichen Zustände mit Personalmangel in den Paderborner Kitas geht, muss ich mich stark zurückhalten und fühle mich oft wie auf der Insel der Glückseligen. Diesen Monat war Kindergeburtstag. Acht Kinder waren da, fünf Jungs, drei Mädchen. Sie sitzen versammelt im Kreis und versuchen ein neues Spiel zu erfassen, das Leander geschenkt bekommen hat. Man hätte meinen können, sie sind alle Geschwister. Sind sie ja auch irgendwie, da mache ich mir nichts mehr vor. 40 Stunden Zeit verbringen sie jede Woche gemeinsam im Wald und geben aufeinander acht, angeleitet durch die drei Erzieher, die ebenfalls aus gutem Grund im Wald sind. Machen wir einen Waldspaziergang, zeigt uns Leander stolz "seine" Plätze, weit verstreut im Dickicht. Am Ende haben wir den halben Wald durchfräst, Bärlauch gesammelt und 7 Kilometer auf dem Schrittzähler. Das ist seine eigene Welt geworden und wir dürfen am Wochenende auch mal rein. Und ich stelle fest, dass es schon jetzt ein Stück selbständige Erfahrung bei Leander gibt, an der ich keinen Anteil mehr habe.
Ich sehe das positiv. Es strahlt stark in alle Richtungen ab. Ich war letztens ein paar Tage alleine mit ihm Skifahren. Das war auch nur ein weißer Wald mit Pisten, den es zu begreifen galt. Ein paar mal kräftig aufs Maul legen und in den Tiefschnee abdriften, ein bisschen Frust, Ärger und Ehrgeiz und schon stehen wir in 2700 Meter Höhe an einer Bergliftanlage und starren einen Abhang mit 60% Gefälle hinunter. Die Nr. 18. Schwarze Piste. "Kann ich?", fragt er. "Mach doch" sag ich. Er fährt los, zieht große Kurven. Freut sich ob der Geschwindigkeit, dreht sich zu mir um, ruft "komm endlich" und verliert dabei das Gleichgewicht. Eine kleine Schneestaublavine purzelt die letzten 200 Meter hinunter, gefolgt von zwei abgesprungenen Skiern. Ich fahre hinterher und treffe auf einen weißgepuderten Leander, der grinsend Schneeengel in die Piste wedelt und mich anblinzelt: "Fallen gehört dazu. Stimmt es, Papa?", fragt er. Er fragt mich häufig, ob das alles so stimmt, was er denkt.
All sowas verändert das Bedürfnis nach Familienauszeit für mich gravierend. Noch ist er klein und ungebunden und ich bin neben Frances immer noch der wichtigste Bezugspunkt in seinem Leben. Noch zwei Sommer und er ist in der Schule. Und ich soll alleine El Hierro erkunden? Das will ich nicht mehr. Die letzte Insel machen wir drei gemeinsam, beschließe ich. Zwar umrunde ich immmer noch allein die Insel, aber es wird immer wieder Abschnitte geben, auf denen ich eben nicht mehr alleine unterwegs bin. Und da ist wieder diese Vorfreude in mir auf den Blick durch Leanders Augen. Alles ist neu, ein neuer Planet: das erste Mal fliegen, das erste Mal Fähre fahren. Das erste Mal Palmen und Kakteen, Dschungel, Wüste und Vulkane. Und alles wird mit einer Selbstverständlichkeit eines kleinen Kindes begriffen, das all diese Erfahrungen in diese Selbstverständlichkeit assimilieren wird.
Noch ist all dies möglich. Noch ist die Krise, die uns im Alltag vor allem durch Medien und gestiegene Preise begegnet, nicht im Ansatz Teil des kindlichen Alltags Leanders. Und das soll noch ein bisschen so bleiben...

...denke ich mir, während ich mit meiner Schwester zusammen mit dem Zug nach Bochum fahre und die dunkelgraue Landschaft an mir vorbeiziehen lasse. Ortswechsel. Viel Zeit in verspäteten Zügen, um die Details der anstehenden Reise zu durchdenken und ein paar digitale Vorbereitungen zu treffen. Für El Hierro hab ich zwar schon viel gebucht, aber ständig ändert sich was. Außerdem braucht Leander einen Personalausweis seit dem 01.01.2024, erfahre ich durch Zufall. So ne Zugfahrt bietet genug Langeweile, um der Aufschieberitis mit Zugfahrlangeweile entgegen zu treten.
Aus dem 9 Euro Ticket wurde ein 49 Euro Ticket und das nutze ich. Leander hat eine kleine Freundin. Letzte Woche fuhren wir zusammen mit der NordWest Bahn nach Bielefeld in die Therme, deren Eingang direkt gegenüber von Gleis 8 liegt. Das geht dann einfach mal so und für die beiden Kleinen ist es ein Abenteuer.
Heute dann halt mal ich und meine Schwester. PeterLicht spielt in den Kammerspielen Bochum auf. Der alte Antikapitalist. Fast vergessen ist er scheinbar. Seit den ganzen Kriesen haben seine Lieder vom Ende des Kapitalismus etwas Apokalyptisches an sich, das mich melancholisch stimmt, weil ich glaube, dass ein nächster weltpolitischer Umbruch wohlmöglich doch nicht im Diskurs, sondern einmal mehr im Graben stattfinden könnte. Ich höre mir an, wie er mit kindischer Naivität die Redewendungen unserer Realität verballhornt. "Alte Tante Wohlfahrtsstaat... der Kapitalismus, der alte Schlawiner, hat uns lange genug auf der Tasche gelegen. Jetzt isser endlich vorbei. Die Zeiten ändern sich. Und wir fahren durch die Steppe an einem hundsgewöhnlichen Safarinachmittag. Halleluja Sushi Sushi Bäng Bäng, Kongo, das ist der Sommer. So weit, so weit, so weit, so weit, so gut."
Ich fühle mich durch seine Gehirnfürze oft bestätigt in meinem Blick auf die Welt, wenn es um die Dinge geht, die ich zwar verfolgen, verstehen und verurteilen, aber nicht verändern kann. Auch nicht mit Empörung, Ökogemüse, der Suche nach bestätigenden Gleichgesonnenen und Kreuzen auf Wahlzetteln und Kirchtürmen.
Seit Leander wohnen zwei Seelen in mir. Eine ist "auf'm Sonnendeck", die andere "am Radar". Die Sonnenseele bereitet sich auf die kleine Blase Urlaub vor, die andere richtet das Radar darauf aus, was es Neues da draußen von "unserem kleinen Weltkrieg" gibt... Ukraine, Hamas, Trump, Erdogan, Orban, Wilders, Weidel, Xi Jinping... all das dispotische Zeug, das den Großteil unserer Welt ausmacht und doch noch weit weg scheint wie ein Kinofilm, während wir innenpolitisch in eine himmelblaue Autokratie streben. Demokratie ist fake. Bevor ich den Mut verliere und zynisch gemütsberuhigende, simple Antworten annehme... lieber wieder zurück auf's Sonnendeck.
Leander wird früh genug den Frust der Welt abbekommen. Aber nicht von mir und nicht jetzt. Vorher soll er das Schöne und Spannende der Welt begreifen und als selbstverständlich empfinden lernen. El Hierro ist ein Teil davon und in seiner Wahrnehmung gänzlich unbekannt. Ein anderer Planet... wie in Star Trek. Leander erlebt das bald in Echt, nach dem wir Erwachsenen nur noch in Science-Fiction und Fantasy streben, stellt euch das mal vor!
Meinrad Jungblut alias PeterLicht inszeniert diese Naivität. Ich fand es immer faszinierend, wie er sich zu Anfang seiner Karriere vor 24 Jahren selbst immer aus der Inszenierung herausgenommen hat. Seine Visage war verdeckt, sollte nicht Teil der Aussage werden. Das hat sich geändert. Jetzt darf man ihn fotografieren. Naja, er füllt den Saal auch nur noch zur Hälfte in Bochum. Im Publikum alles Leute in meinem Alter, die damals im Studium waren. Er hatte seine Zeit und verschwindet wieder... vielleicht so, wie auch unsere heile Vorstellung der 90er und Nuller Jahre von einer erwachsen gewordenen Welt jenseits des kalten Kriegs mit einem globalen Verständnis für die Umwelt langsam schwindet, "dort, wo der Gletscher kalbt, wo die Sekunden ins blaue Meer fliegen".