Circular de Gran Canaria

24.05.2023 Pozo Izquierda

  

Hier will ich nicht länger bleiben. Wer Urlaub machen will, um waschechte Depressionen zu erfahren, der komme in dieses Haus. Aber es muss Menschen mit so niedrigem Erwartungsniveau geben, dass sie das hier nicht als Gefängnis, sondern erstrebenswert empfinden. Irgendwie verdient man mit diesem Immobilienabfall ja Geld. Weiter geht's in Richtung Norden. An der Strandpromenade herrscht schon reges Treiben. Die einen gehen joggen, die anderen machen Strandyoga und recken auf Aneeisung eines körperdefinierten Jünglings den Pöter gen Himmel. An mir wandern auffällig viele Rückengemälde vorbei. Irgendwie war das in meiner Kindheit deutlich weniger mit den Tatoos, meine ich. Ein bisschen iat das auch wie Graffiti. Wenn ich mir eins machen würde hätte ich den Anspruch, dass es mein ganzes Leben schön ist und nicht mitaltert und ich möchte es sehen können. Was bringt so ein Ding auf dem Rücken? Ein Kerl läuft lange vor mir her. Sein Motiv ist groß aber ich kann weder den Inhalt interpretieren, noch steigert es in meinen Augen die sexuelle Attraktivität, erst recht nicht bei Frauen. Geht einem so ein Gemälde nicht irgendwann auf den Keks? Mir fällt kein Motiv ein, das ich ein Leben lang tragen möchte, ohne dass ich es irgendwann über habe. Vielleicht lasse ich mir mal ein Fußband stechen, das wäre immerhin praktisch. Dann brauche ich keine Lederbänder mehr. Die trage ich tatsächlich schon 20 Jahren immer wieder.
Die Promenade endet abrupt mit einem Warnschild, dass hier jetzt Klettern auf eigene Gefahr angesagt ist. Die Kette an Hotels findet ein natürliches Ende. Ein solches Schild hält mich nicht ab. Die Wellen haben über Jahrtausende eine Rille entlang der Steilküste gefräst, die jetzt bei Ebbe begangen werden kann. Die Abwechslung macht spaß. Ich schrecke hunderte bunte Krebse auf, die vor mir in Spalten fliehen. Ich liebe solche Klettereien, doch nach knapp eineinhalb Kilometer ist Schluss, dann wird es nur noxh steil. Verdammt. Umkehren will ich aber auch nicht, da bin ich ja ne Stunde länger unterwegs. Na dann, hilft nichts. Ich ziehe mich aus, verstaue alles, was ich habe in meinem Rucksack, rolle ihn so fest zu, wie ich kann und ziehe ihn so lose es geht über meinen Rücken. Und ab geht's ins Wasser.
Die Strömung ist stark und ich muss schnell von den Felsen wegkommen. Der Rucksack schwimmt wie eine Rettungsboje hinter mir her. Erstaunlich, dass das tatsächlich funktioniert. Seit Fuerteventura habe ich das nicht mehr gemacht. Nach einer halben Stunde komme ich an einem Hotelstrand heraus, wo auch eine neue Promenade beginnt. Ein paar Hotelgäste gucken mir etwas irritiert an. Den Inhalt hat es trocken gehalten. Trotzdem bin ich jedes Mal froh, wenn es doch geklappt hat. Immerhin ist da alles drin, was ich bei mir habe. Ich stelle mir vor, wie ich meinen Rucksack in den Wellen verliere und nackt am Strand stehe und alles ist weg. Das wäre ein Spaß. Dennoch wäre ich zuversichtlich, recht schnell wieder handlungsfähig zu sein. Alle wichtigen Dokumente habe ich online gespeichert. Ein Handtuch würde mir das Hotel in meiner Not sicherlich leihen. Ich würde jemanden am Pool finden, der mir Bargeld gegen PayPalbezahlung oder Echtzeitüberweisung geben würde, sodass ich mir an irgend einem Strandshop für kleines Geld Shorts, Hemd und Flipflops und ein Prepaidhandy besorgen kann. Nur den Reiseausweis als Passersatz beim Konsulat zu beantragen, damit kenne ich mich nicht aus, weiß aber, dass dafür Passkopien ausreichen. Und weiter geht's eigentlich. Da hätte ich schon Kniffeligeres gemeistert.
Es geht schließlich wieder hinauf auf die GC 500 und 8 Kilometer nur geradeaus bis zu ihrem Ende in einem Kreisverkehr kurz vor dem Ort El Doctoral. 2 Stunden Langeweile. Mittlerweile nehme ich mir auf solchen Strecken die Brücken von unten vor, um vielleicht was kreatives Buntes zu endecken. Zwei Tags fallen mir immer wieder auf SAKER und CESER. Manchmal sogar gemeinsam. Die Motive sind oft so gut, dass selbst urbane Tristesse nahe der Städte zur spannenden Schatzsuche gerät. Das ist weit weg von banaler Reviermarkierung. Ich google nach den Tags und entdecke, dass beide Künstler Instagramseiten und zehntausende Follower haben. Beide gerieten wohl schon mehrmals mit der Polizei aneinander und wurden 2020 in einer groß angelegten Aktion gemeinsam mit acht weiteren Sprayern festgenommen. Es scheint ein Katz und Maussspiel zu sein. In einer Großaktion wurden von der Cabildo de Gram Canaria 866 Grafitti für 327.000 Euro übermalt, was nur schlicht zu neuen Leinwänden für neue Motove führte. In kürzester Zeit waren dutzende neue Bilder da. Der Hauptteil erstreckt sich entlang der Autobahnen GC 1 und 2 und ein Teil von mir fragt sich: wo ist das Problem, wenn es ästhetisch ist? Ist Kunst nicht gerade dann spannend, wenn sie anarchisch daher kommt, ohne jeden kommerziellen Anspruch oder die Gewissheit, dass es überhaupt Betrachter gibt?
Ich glaube aber auch, dass das Ganze erst an Bedeutung gewinnt, eben weil dieses Katz-und-Maus-Spiel existiert. Es wäre nicht einfach damit getan, ausgewiesene Sprühflächen zu schaffen und das Freigeistige damit zu domestizieren. Wir wollen ja im Grunde auch am liebsten Löwen in freier Wildbahn beobachten anstatt im Zoo. Nur draußen macht der Löwe Sinn, weil er dort eine bedrohliche, wilde und gefährliche Authorität ist.
In El Doctoral decke ich mich mit Essen ein. Zu meinem Zielort Pozo Izquierdo geht es zurück an die Küste. Es ist ein vom Tourismus weitgehend übergangenes Örtchen innerhalb der Einflugschneise des Flughafens. Hier weht immer Wind. Das kann man schon die ganze Strecke über sehen. Hier im Südwesten steht "DER" Windpark Gran Canarias. Es müssen über hundert Anlagen sein. Der Ort liegt inmitten dieser Parks. Drei vier Windsurfläden haben hier Fuß gefasst. An der Strandbucht des Ortes liegt mein heutiges Zimmer, direkt an der Promenade, die so auch 1960 schon ausgesehen haben könnte. Nichts los, außer ein paar Anglern und drei Surfern. Und mein Herz geht auf. Das entschädigt für die gestrige Fleischparade. Aus meiner Haustür kann ich direkt ins Wasser fallen und beim Essen den Wellen zusehen. Es ist schön, dass es solche Orte noch gibt, an denen die Menschen nicht vollends durch den Tourismus verdrängt wurden. Auf dieser Insel gibt es in Küstennähe nicht mehr viele.
Und genau das mache ich jetzt noch. Planschen gehen. Und danach Brot, Käse, Tomaten, Sardellen und Muscheln essen mit Wellensound und Aussicht... und Vanillepudding... und Kekse.