Circular de Gran Canaria

21.05.2023 Soria

  

Mein Zelt ist eisig kalt und ich verkrieche mich tief unter die zum Glück dicke Decke. Halb Acht, draußen kräht ein Hahn. Das Echo wird so stark von den Felswänden ringsum reflektiert, dass er geschlagene 20 Sekunden nachhallt. Irgendwann müsste ich dann mal aufstehen und aufs Klo gehen. Ääärgh aber da muss ich ja raus und durchs Gestrüpp. Ich schalte mal den Heizlüfter an, der hats gestern Abend ganz gut warm gemacht im Zelt... solange er lief jedenfalls. Jetzt geht da fast nix, verdammt. Egal, ich muss raus.
Gegen 9 Uhr bringt Patrice mir ein Frühstück und fünf Katzen, sowie ein Huhn als Gesellschaft ans Zelt. Es miaut und bockt unter meinen Beinen herum, während ich Ei, Wurst und selbstgemachte Aprikosenmarmelade an einem kleinen, verrosteten Campingtisch vor dem Zelt verdrücke und die Sonne langsam von den hohen Berghängen ins Tal strahlt. Hilft nix, ich muss los. Und so lustig das auch das ganze Improtheater hier ist, mehr als eine Nacht möchte ich das nicht. Es ist halt eine mit Fundsachen aller Art zurecht gebastelte Einnahmequelle, wenn das Fuß fassen hier nicht so recht klappt als Aussteiger, stelle ich mir vor. Solange die Kleine noch klein ist, mag das ja auch gehen, aber spätestens ab dem Schulalter fehlt doch gänzlich die Bodenhaftung, wenn man so zwischen den Welten heranwächst. Wie Emilio auf La Palma hat es aber einen Vorteil: sie wächst spielerisch mit vier Sprachen gleichzeitig auf. Ob Emilio wohl auch noch auf La Palma aufwächst, frage ich mich, während ich meine Sachen zusammen packe. Er wäre jetzt 13 Jahre alt.
Patrice und Miabella sagen mir noch Au Revoir und zeigen mir den Geheimweg hinauf zum Cruz Grande, von wo ich den Camino de Santiago gleich wieder verlassen muss. Für weiteres Nachfragen warum und weshalb das alles hier, ergab sich leider keine Gelegenheit mehr. Ich empfand die drei ohnehin als recht in sich gekehrt.
Mein auf der Topokarte zurecht gestecker Weg quer durch die Wildnis zu meinem heutigen Ziel entpuppt sich vor Ort als im doppelten Sinne ausgezeichneter, offizieller Wanderweg SL 2, der zwar selten genutzt wird, so überwuchert wie er ist, aber schön gleichmäßig weiter hinab führt. Von allen Seiten her werde von unzähligen Heuschrecken besprungen, alles ein einziges Gehüpfe um mich herum. Ich bin über Stunden allein und kann all meine Sachen sauber halten, sprich nichts anziehen. FKK hat also auch einen ganz praktischen Vorteil. Ein leichter, kühler Wind weht durch die Kiefern. Es ist kühl. Mann, wenn ich vergleiche, welche Wasserprobleme ich die letzten Jahre grundsätzlich hatte. Hier fange ich nicht mal an zu schwitzen und brauche etwa eine Falsche Wasser anstatt vier.
So komme ich schnell voran. Mein Zieloort Soria liegt unterhalb einer weiteren Klippenstufe, die mich mit einem Schlag 200 Meter hinab führt. So verschwinden auch die Kiefern und die Palmen und Kakteen halten wieder Einzug. Das winzige Soria kündigt sich durch ein gewaltiges Bauwerk an: ein Staudamm ragt vor mir und dem Ort 120 Meter aus einem Barranco hervor und bildet so die Eingangsbrücke in den Ort. Irgendwas wird hier gebaut. Ich bin irritiert über den Damm. Er staut kein Wasser und hat es wohl auch noch nie, sonst sähe man Spuren an den Felsen und es wüchsen keine Bäume im Becken. Das konvexe Ungetüm wirkt aber baufällig. Es muss schon lange hier stehen. Seit 1972, beschildert ein Denkmal. Ein gewaltiger See, den man hier zur Bewässerung angelegt hat. Und es ist der einzige. Gran Canaria hat viele davon und sie sind zumindest zur Zeit fast alle randvoll. Nur dieser steht irgendwie entfremdet in der Gegend und gibt eine Kulisse eines dystopischen Nach-dem-großen-Knall-Szenario... ein Überbleibsel einer ausgestorbenen Gesellschaft. Wir werden ganz schön viel hinterlassen, wenn unser Zeitalter nicht mehr ist.
Meine heutige Unterkunft ist die bislang teuerste und liegt etwas außerhalb. Es war ein notwendiger Kompromiss, wenn ich heute nicht 40 Kilometer bis an die Küste rennen wollte. Das macht wenig Freunde, weiß ich. Also gönne ich mir das einzige Zwischenziel für gnadenlose 146 Euro. Was mich erwartet ist, gelinde gesagt, das Selbe wie gestern in Stein, nur für den fünffachen Preis. Mein Zimmer hat Pensionsniveau. Draußen blubbert ein Pool in der Farbe Waldmeister. Drumherum sind ausrangierte Sofas als Sitzgelegenheiten drapiert. Nikolas, der Besitzer, ist freundlich, aber ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Das muss ich sacken lassen. Für 40 Euro wäre das in Ordnung gewesen..Aber nicht für den Preis, der den des Parador Hotels bei Weitem überschreitet. Er muss wissen, dass er der Platzhirsch im Umkreis von 20 Kilometern ist, dass er sich das leistet. Ich bin selten undankbar. Aber das hier ist dreist. Fürs Internet hat er sein Anwesen ordentlich geputzt... und danach wohl nie wieder. Am Pool liegt ein kleiner Hund. Ein junges Kätzchen versucht Milch an ihr zu saugen. Das wird wohl nicht funktionieren. Alles wirkt hier irgendwie falsch.
Und so sitze ich auf einem Feldbett, höre den Fröschen am Pool beim Quaken zu, verstecke die offenen Kabel des Lichtschalters, während ich die lose herumbaumelde Deckenlampe anknipse und fange an zu schreiben. Wenigstens mein Essen war ein unerwartetes Highlight: Calamari in Barbequesoße aus kleinen Döschen aus dem Hause "Miau" mit Knoblauchzwieback. Passend zum Ambiente. Nein, es ist kein Katzendosenfutter. Dazu fehlt das Petersilienblatt auf dem rotbraunen Häufchen.