Circular de Gran Canaria

19.05.2023 Roque Nublo

  

Es ist hell. Keine Wolke am Himmel und kein Vergleich zur Novemberstimmung gestern Morgen. Der Tatendrang drängt mich zum Frühstück. Ich weiß, wo ich heute hin will. Der Schneidezahn namens Roque Nublo auf der gegenüberliegenden Seite des Tals, der mich schon seit vier Tagen begleitet... den muss ich mir vom Nahen anschauen. Das wird dauern. Die Erhebung ist das Wahrzeichen Gran Canarias. Meine Vermutung, dass es der gehärtete Rest eines Vulkanschlotes ist, während der Vulkan langsam wegerodiert wurde, bestätigt mir Wikipedia. Bin schon stolz, diese Struktur ohne Hilfsmittel richtig erfasst zu haben.
Die Hälfte des Wegs kenne ich schon von gestern. Gute Hörspielzeit. Auf dem Weg gibt es viele Wasserstellen auf Zeltplätzen und die funktionieren auch alle wieder. Also auch kein Rucksack. 23 Kilometer hin und zurück sind es dennoch, also eine volle Tagesetappe. Aber es geht gut voran. Es macht Spaß ein Ziel im Spaziergehmodus mit Hörbuch im Kopf zu erlaufen und ich bin tatsächlich in der von Google angegebenen Zeit von 2,5 Stunden dort und nicht wie sonst mindestens eine Stunde später, weil irgendwas nicht so recht nach Plan verläuft. Vor Ort ist Hotspot angesagt. Ein Lieferwagen mit Sonnenschirm ist natürlich auch da mit Ponchos, Totenkopfmagneten für den heimischen Kühlschrank und Helado für teuer Geld. Reisebusse quetschen sich in die spärlichen Buchten an der GC 600, die sich etwa 1,5 Kilometer weit unterhalb des Zinkens vorbeischlängelt. Im Anblick des steilen Aufstiegs will dann doch nicht jeder Beflipflopte hinauf und begnügt sich mit einem der Roque Nublo Kühlschrankmagneten. Dennoch ist der Amdrang verhältnismäßig groß. Der Weg endet auf einem steinigen Hochplateau. Und da steht der Roque gemeinsam mit seinem Sidekick erhaben über den Kiefern. Es könnte auch ein konstruierter Tempel sein. Ich setze mich in eine Mulde im Schatten des Gebildes und schaue hinüber auf das fünf Kilometer Luftlinie entfernte Parador Hotel. Um mich herum schwirren Schwalben in chaotischen, schnellen und lautlosen Kreisen wie Insekten. Ein paar Raben zanken sich mit ihnen um die Luftherrschaft. Hinter mir fängt's an zu quasseln. Zwei junge Spanier setzen sich direkt hinter mir hin, quasseln einen Wasserfall an Nichtigkeiten und fangen irgendwann an lustige TikTok Videos durchzuscrollen. Ich kenne die Soundtracks der Memes mittlerweile schon. Ich werde richtig sauer, bis ich mich schließlich entnervt mit dem Kopf kopfüber im Nacken an sie wende und frage, ob sie das wirklich ernst meinen. Sie gucken ebenso entnervt an: "Que?!" Nee, diesmal kein Spanisch, sondern langsames, aber dafür einprägsames Englisch direkt ins Gesicht: "You seriously come all the way up to this viewpoint to just watch videos on a smartphone? Do that elsewhere!" Entgegen meiner Erwartungen machen sie betroffene Augen und ziehen mit einem "Lo siento" ab. Selstzufrieden setze ich mich wieder hin und glaube wieder an den gesunden Menschenverstand der mir folgenden Generation.
Ich muss aber auch mal langsam zurück. 2 Stunden mindestens liegen noch vor mir. Beim Abstieg nähert sich ein Helicopter aus der Richtung von Las Palmas, umkreist einmal den Roque und setzt genau dort zur Landung an, wo ich stehe. Ich stehe ratlos rum und weiß nicht wohin. Staub wirbelt auf und ich presse mich am einen Felsen. Mein erster Gedanke ist kurioserseise "Was hab ich falsch gemacht?". Sie kommen aber nicht wegen mir. Eine Frau ist auf dem Plateau erschöpft kreislaufkollabiert. Sie wird ins Krankenhaus geflogen. Ich bin fasziniert davon wie der Heli versucht einen Landeplatz auszumachen. Ich merke, dass es doch eher selten ist, dass man einen Heli direkt vor der Nase landen sieht... und kehre zurück zum Hotel. Am Horizont zieht sich ein Wolkenband entlang und grenzt darunter eine gelbliche Smogschicht vom tiefen Blau darüber ab. Hier oben ist es definitiv schöner. Zum Abendessen hole ich mir vom Zeltmarkt am Parkplatz noch Tomaten und gebrannte Mandeln mit Paprika und Knoblauch. Die sind tatsächlich süß. Eine schräge Erfindung, die es wohl nur hier so gibt.
Die ganze Zeit versuche ich den Teide irgendwie auf Bildern festzuhalten. Es gelingt mir nicht, zu kontrastarm. Um 20:42 Uhr schließlich ist es soweit. Ich stehe auf dem Balkon zum Wäsche aufhängen und Mandeln essen, als der Horizont sich bunt färbt und die untergehende Sonne das gewaltige Massiv des Teides für nichtmal drei Minuten als dunkelgrauen Scherenschnitt herausstellt. Allein dafür lohnt es sich hier oben zu bleiben.