Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

15.06.2022 Alle guten Dinge...

  

Irgendwann gegen 23 Uhr in der Nacht passiert es. Die Schwellung entpuppt sich als Abszess und platzt. Eiter kommt heraus. Der immense Druck auf den Gaumen, der mich seit fast einer Woche begleitet hat, ist mit einem Schlag weg. Die Schmerzen sind weg. Ich bin total überwältigt und fange fast instinktiv an die Blase förmlich leerzusaugen, bis ich Eiter im Geschmack nicht mehr ausmachen kann. Dann trinken, dann Zähne putzen. Mund gurgeln. Ich sitze fassungslos auf dem Bett. Innerhalb von wenigen Minuten regeneriert sich mein Gemütszustand von einem elenden, krankenhausenreifen Dahinvegetrierer zurück zum Menschen und ich bin mit einem Schlag voller Energie. Das verwundert mich zwar, aber eigentlich ist es logisch: ich bin ja nicht wirklich krank im Sinne einer Grippe. Und nun? Ich wollte eigentlich den Schmerz wegschlafen, jetzt bin ich hellwach und euphorisch. So viel Kraft in so wenig Zeit. Wohin damit? Erstmal zum 24/7 Shop. Ich will Kekse. Ich kann wieder essen. Und dann? Eine immense Sturmflut aufgestauter Lust am Dasein platzt wie der Eiter aus meinen Gedanken und nimmt sich den seit einer Woche verwehrten Freiraum in meinem Kopf ein. An Schlafen kann ich nicht denken. Einerseits bin ich erleichtert, dass es nicht nur mehr Hoffnung sondern Besserung gibt, andererseits schaue ich auf die vergangene Woche, die so überschattet war und eigentlich als Ich-Zeit einen wichtigen Baustein in meinem Jahresrad einnimmt. Dann schaue ich auf die Einträge… wie heißt es, in einem Jahr lacht man drüber und kann es sogar noch lesen. Also sehe ich es positiv: Etwa 24 Stunden kann ich noch gestalten, um einen würdigen Abschluss für mich auf diese Insel zu finden.
Ein Blitz zieht durch mein Gehirn. Ich checke die Winddaten. Morgen 13 km/h anstelle von 75 gestern. Ich kaufe adhoc eine Seilbahnkarte Auf- und Abfahrt von der Resterampe. 14 Uhr. Stornieren kann ich immer noch. So. Ein Pin ist gesetzt. Weitere Pins fehlen, um einen Wollfaden daran zu spannen. Wie komme ich denn da hoch? Bus? Geht nicht, ich muss das nach wie vor checken lassen morgen, da ist der Bus weg. Hm. Auto. Aber das war auf Lanzarote so ein Problem, die Insel war ja komplett ausgebaut. Na vielleicht hab ich Glück. Ich gehe auf die Cicar-Seite und mir wird schlagartig bewusst, was Lanzarote von jetzt unterscheidet: Juni ist totale Nebensaison, die Karren stehen rum. Ich werde mit Angeboten ab 40 Euro nur so überschüttet. Super, ich komme zur Seilbahn… und auch auf die ganze Insel, wenn die doch wieder dicht macht. Grad will ich schon buchen, da muss ich noch einmal an Lanzarote denken. Fiat 124… ich will ein Spiderman sein und oben ohne fahren. In Los Cristianos sehr tatsächlich einer am Fred Olsen Anleger nach La Gomera herum. Ich buche ihn. Boah geil ich fahre das erste Mal Cabrio. Endorphine schießen zwischen die Augen. Schon wieder blitzt es. Meine Nationalparkbewilligung… die ist wegen zwei Totalausfällen ja noch gültig. Das wäre ja wie ein gewollter Showdown. Und übernachten? Etwa in meinem gebuchten Mehrbettzimmer am Flughafenfeld? Ich kann die Buchung nicht mehr stornieren, weil es schon heute ist. Mittlerweile ist es 1 Uhr morgens. Scheiß drauf. Ich will in den Nordosten fahren, ins Anaga-Gebirge, das triefend feucht sein soll. Ich suche mir die letzte, entlegenste Casa Rural, die ich finden kann; ich Charmorga mitten in einem kleinen Gebirgst-Hochtal. Dann ist der Kurs gesetzt, es ist 2 Uhr und ich geh schlafen.
6:30 Uhr wache ich von allein auf. Ich habe offensichtlich einen Kater. Wovon das denn? Ich schätze, Ibu-Entzug oder sowas, von 800-1200 mg alle 4 Stunden runter auf Null, das soll wohl auch noch andere betäubte Dinge hervorbringen. Ich muss wohl noch eine essen. Eine reicht, der Schmerz ist weg. Ich setze mich auf den Balkon und schaue zu, wie es zwischen den Betonklötzen rapide hell wird. Ich will weg aus diesem Loch. Wie kann man das Urlaub nennen und es als solchen 2 Wochen lang sogar buchen. Unter mir kommen die Zwannis aus dem Nachtleben und kotzen an eine Palme. Alles hallt mehrfach von den Bettenburgwänden zurück. Ich will ins Grün, ich will nur Grillen höhren lalalaaa. Zirp zirp… während ich gestern an den Clubs vorbeigelaufen bin auf der Suche nach Hilfe, musste ich viele eingetrocknete Kotzlachen umgehen. Es regnet ja kaum, das Zeug kann Schichten bilden, die man später mal geologisch untersuchen kann, um festzustellen, dass an manchen antiken Orten der Selfiedynastie des 21. Jahrhunderts die Erde aus Alkohol und Pommes bestanden haben muss. Leider existieren aus der Zeit keine Bildnisse, nur unlesbare, silberne Scheiben und Plastikkarten, deren Codes aus Hebungen und Senkungen keinen Sinn ergeben, weil immer ein Bitchen fehlt.
Dann ist es 8 Uhr. Blick auf den Seilbahnstatus: geschlossen. Naja, war zu erwarten. Aber die Absage-SMS kam noch nicht. Egal. Ich gehe zum Hafen, meinen Spider abholen. Und da steht er. Mann ist der niedlich. Ich muss gefühlte 2 Meter absacken, bevor ich drinnen sitze. 500 Euro Kaution muss ich hinterlassen, weil der Wagen ja ach so geil ist. Für mich ist es nur folgerichtig: Exakt 50 Jahre nachdem mein Vater seinen Fiat 124 auf den Kanaren gefahren hat, mache ich das jetzt auch mit einem Fiat 124…..... Spider. So cruise ich ausgesprochen stillvoll mit ohne Dach und mit lässig den Arm neben der Tür herausbaumeln lassen durch Los Cristianos an den Schnapsleichen vorbei zum deutschen Ärztehaus, setze mich geschmeidig auf den Ambulanzparkplatz und smoothe wie auf Gleitgel in die Praxis…. um angewiesen zu werden, meinen Schlitten auf dem Schotterparkplatz am Kongresszentrum Magma zu parken. Sie nähmen solange meine Daten auf, ne, Herr Eue?!
Reumütig getan und dann bekam ich auch die Diagnose Bakterieninfekt. „Holla, das ist ja nen fetter Flatschen.“ Ich bekomme Antibiotika zum antherapieren. Die Mundsoor-Gelsache in Eigenregie war goldrichtig gedacht. Danke. 30 Euro bitte, wir sind privat. Ich erfahre, das es nur ein einziges nicht-privates Ärztezentrum hier gibt. Ich checke noch einmal die Statusseite der Seilbahn und bekomme Pipi in den Augen: die Ampel ist grün. Sie fährt. Verschwörungstheoretiker könnten Zusammenhänge zu meinem Gesundheitszustand finden…
Ich hole meinen Rezeptstoff aus der Apotheke, beschwimme noch einmal das Bad meines Betondomizils und ab dafür, hinauf dorthin, wo man die Smogschwelle hinter sich lässt und die Leute kein Englisch mehr verstehen, durch die Dörfer, die ich letzte Woche durchlaufen habe, durch den Corona Forestal weiter bergauf, bis wieder das Hochtal vor mir liegt. Ein Abstecher noch am Parador, ich hab gestern mein Ladekabel vergessen, das ist die Gelegenheit. Ich bekomme es sogar wieder. Und auf zur Seilbahn. Ein kleiner Korken seilt sich daran ab, ein anderer parallel auf. Sie fährt wirklich.
So kommen die Hochgebirgssandalen doch noch ihren Einsatz. Die Bahn fährt im 10-Minutentakt rauf und runter. 13 Uhr betrete ich sie und bin wenig später 1.500 Meter höher als die Talstation. Von 0 auf 3550 Höhenmeter in 45 Minuten, gerade noch Los Cristianos, jetzt hier… das geht zu schnell für mich. Mir ist latent komisch im Kopf und setze mich in den Schatten der Bergstation und lasse die Landschaft auf mich wirken. Ich bin tatsächlich hier. Der Berg könnte nicht prominenter über alles im Umkreis von 1000 Kilometern thronen. Das macht den Anblick im Vergleich zu den Alpen krass. Man schaut ungehindert 3,5 Kilometer in die Tiefe bis zum Meer. In den Alpen kommt da immer schon was anderes ins Blickfeld. Ich bekomme tatsächlich sowas wie Höhenangst bei dem Anblick. Es ist immer noch sehr windig hier oben und etwa 10 Grad, wenn die Sonne nicht scheint. Ich ziehe meinen Buff über die Ohren und suche den Aufstieg. Er ist gleich hinter der Station. In einem kleinen Häuschen davor wird die Bewilligung kontrolliert. Der Moment der Wahrheit. Ich bin eine Stunde zu früh. Egal, es wäre eh nicht viel los im Moment, er schaut auf mein Schuhwerk, nickt mit einer Art wissenden Erkenntnis, sagt einfach nur „okay“ und öffnet ein Türchen. Ich glaub’s nicht. Ich gehe hoch. 165 Höhenmeter, die sich schlimmer anfühlen wie alle Barrancoschluchten der letzten Jahre. Nichts ist ätzender als fehlende Atmosphäre… und dann auch noch so viel. Es hat 530 mBar. Ich war noch nie so hoch. Es ist lächerlich, wie schnell ich fertig bin und Herzrasen bekomme. Bis zum Kraterrand ringe ich tatsächlich mit Höhenangst. Zu viel Weite vor den Augen und Wind. Dann kommt Mir ein sehr vertrauter Geruch entgegen. Bin ich auf Island? Sozusagen, der Teide fördert heißes Schwefelwasser in sogenannten Fumaroles hinauf und lagert es ab. Wo es herauskommt, ist es 30 Grad warm. Ein stinkt nach Ei. Das Ding ist eindeutig aktiv. Solarbetriebene Seismometer messen die Aktivitäten und säumen den Kraterrand.
Dann bin ich oben. Alleine schrägerweise. Hab ich jetzt einfach nur Glück? Ich hätte mindestens 40 Besucher erwartet bei den Bewilligungsmengen, die man buchen kann. Ich bin oben, tatsächlich ganz ganz oben. Alleine. Höher geht es auf spanischem Staatsgebiet nirgends. Persönlicher Höhenrekord nach dem Muttler mit 3300. Ein goldener Punkt markiert die Stelle der höchsten Erhebung Spaniens mit 3715 Höhenmetern. Ich drücke drauf. Es klickt, eine Atombombe hat in meinem Kopf gezündet und ich hab wieder Pipi in den Augen. Das ist für dich, Schicksal.
Ich habe viel Zeit, sitze herum, schaue von Kanareninsel zu Kanareninsel und mampfe Kekse zu grünem Tee. Alle sind zu sehen, wenn auch diffus. Wolken bilden sich langsam im Tal. Es wird Nachmittag. Nach und nach kommen andere Leute. Wahrscheinlich all die, die wie ich auch die 15 Uhr Bewilligung haben. Aber ich dürfte ja früher. Wieder so ein Glückchen. Ein Sprachwirrwarr geht in Gang. Wer will mit wem Selfies machen. „Kannst du für mich, dann mach ich für dich“ und so weiter. Eine spanische Frau sticht als rasende Reporterin bewaffnet mit Wollemikro, Stativ und Spiegelreflex hervor, wie sie lautstark in die Linse moderiert, als wäre das Aufnahmegerät ein Kleinkind, dem sie alles beibringen müsste. „No olvides las pequeñas cosas.“, rufe ich rüber. Sie guckt mich an. Ich deute auf die Fumaroles. Sie beugt sich deüber und bekommt einen Schwall Wasserdampf ins Gesicht und ist völlig fassungslos. Sie richtet die Kamera drauf und erklärt dem virtuellen Kleinkind die Welt. Wir kommen eigenartigerweise darüber ins Gespräch. Sie arbeitet drei Monate hier auf den Inseln und wollte doch eigentlich zu Fuß hier hoch, aber die Zwischenherberge hat coronabedingt immer noch zu. Sie betreibt einen Influencer-Kanal auf YouTube, daher auch diese Laberei und das Equipment. Sie macht daraus semiprofessionelle Urlaubsberichte für irgendwen, hab ich nicht kapiert. Aber ist wohl Aktivsport. Sie heißt Pilar. Wie die Säule? Ja genau, das wäre sie ja schließlich auch, sagt sie, und stellt sich extragerade vor mich hin. Hm… auch so bleibt sie insgesamt etwa 1,60 Meter hoch. Wir gehen und fahren gemeinsam abwärts, bis wir am Parkplatz wieder unserer Wege gehen. Mein Kopf ist froh wieder Luft zu bekommen. Mittlerweile ist es 17 Uhr. 2 Stunden Fahrt liegen vor mir. Eigentlich immer ein Ärgernisse, heute hingegen Speedsterei. Ich freue mich und cruise über die anschwellenden Wolken über die Parkstraße weiter in Richtung des Anangebirges. Je näher ich dran bin, desto mehr dominiert der Wind die Wolken. Es wird feucht und kalt. Eine schmale Straße führt nach Las Canteras über 28 Kilometer direkt auf dem Gebirgsgrad entlang bis zu meiner Ziel-Eremitage. Von Nordern her preschen Wolkenwellen an die triefenden Hänge und lassen Moos in Fetzen von den Bäumen hängen. Meine Scheibe beschlägt. Recht in den Süden lösen sie sich rasch auf. Es ist stürmisch Dazwischen ich mit offenem Dach, rechts und links nur Anhang. Faszinierend gruselig. Nur der öffentliche Bus kommt mir entgegen und wir müssen uns solidarisch arrangieren bei der Enge. Ich frag mich, wer so viel Straße für eine Handvoll Menschen baut und warum. Hier draußen ist nur noch Grün und sonst das Ende der Welt. So will ich es aber heute genau haben. Ein würdiger Ersatz für den gestrigen Tag. Das Auto muss ich 500 Meter weiter weg stehen lassen und uns Tal hinabgehen. Grün, zirpende Grillen, keine kotzenden Typen mit Tatoos auf rot verbrannten Bäuchen und Schultern. Der Casa-Besitzer schenkt mir ein Bier zur Begrüßung.
Ich hab meinen Käse und Chorizo gemampft. Schmerzfrei. Der Wind pustet übers Tal. Der Kopf ist klar. Fenster auf, ab ins Bett. Schreiben. Schließlich geht es noch weiter. Die Lichterkette um den Teide brennt noch nicht vollständig, auch wenn seit Heute der Stern schon in der Mitte thront und die Arme in den Himmel reckt.

Soundtrack des stressigen Gefühls, wenn nach aufgezwungener Untätigkeit die Energie und viel zu viele Möglichkeiten zurückkommen... ;-p