Camino Real de La Palma

07.09.2020 AbraCaRiBes

  

Die heutige Etappe wird reine Pflicht. Der eigentliche Weg führt kreuz und quer an der LP1 entlang, da kann ich auch gleich Straße laufen. Ich will Kraft für morgen aufsparen. Habe einigen Respekt vor den 2000 Höhenmetern. Passend zur Tristesse der Etappe ist es komplett bewölkt und regnet sogar manchmal, was mir nur recht sein kann. Es ist trotzdem schwülwarm. In jeder Talkurve ändert sich die Temperatur um 5 Grad nach oben und unten. Das Handy sagt strahlender Sonnenschein ohne Wolken. Ts... Stöpsel in die Ohren... Mitch Murder bestimmt den Takt... nichts ist besser als 80er Jahre Synthwave für monotones Straßengelaufe, auch wenn das so gar nicht zu einer kanarischen Reiseberichterstattung passen will, muhaha... aber so erreiche ich 4 Stunden später La Punta. Hier soll mein Kinderbett stehen. Aber an Haus 28 steht nur ein Betonklotz zum Verkauf. Ich rufe die Besitzerin an und sie versucht mich irgendwohin zu navigieren. Das bringt alles nichts. Sie will mich abholen kommen. Es dauert 20 Minuten, dann steht Sabrina in einem brauen verbäulten Mitsubishi-Pickup vor mir und grinst mich unter einer großen Brille an. Es stellt sich heraus, dass Casa AbraCaRiBes etwa 300 Meter höher liegt. Ein Sammelsurium verschiedenster Dinge, die zu einer Art Haus zusammengezimmert wurden. So stellt man sich eine Aussteigerfinca vor. Sabrina ist neugierig und fragt, wer ich bin und warum und so. Wo ich denn auf der Insel wohnen würde? Ähm, ich bin aus Deutschland?! Das würde man aber nicht sehen, ich sähe aus wie einer der Aussteiger von hier. Sie erzählt, dass sich viele Deutsche und Italiener in der Gegend niedergelassen haben. Sie selbst ist Italienerin, hat aber 12 Jahre in Reykjavík gelebt. Dort sind auch ihre drei Kinder zur Welt gekommen. Dann brauchte sie einen Ortswechsel... hmmm... nur einen Ortswechsel... jedenfalls landete sie mit ihren Kindern hier. Ich werde in die Familie eingeführt und bin mit einem Schlag Teil dieser. Drei Kinder grinsen mich an und geben mir Kuchen. Eine Freundin von ihr aus Polen versucht sie zu bremsen. Ich will das vielleicht gar nicht, meint sie. Sabrina sagt, ich wäre ein scheuer Wikinger, da muss man nachhelfen. Eine Diskussion entsteht. Offenbar nicht die erste dieser Art. Zum Haus gehören zwei weitere Gästehäuser. In einem wohnt ein spanischer Mann mit seinen Hühnern, in dem anderen zwei Deutsche, denen ich ebenfalls vorgestellt werden soll. Ich solle mich mit denen erstmal unterhalten und ein Bier trinken. Sie wären ja schließlich auch deutsch. Nun... ich fühle mich überrumpelt. Ich strahle oft einen Aussteiger-Habitus aus und es wirkt, als könne ich mich nahtlos den hiesigen Aussteiger anschließen. Aber ich merke stark, dass ich selbst entscheiden möchte, mich zu integrieren oder nicht. Ich finde es sonst schnell übergriffig: Es erinnert mich an meine ersten Diskoversuche. Da schubst einer einen auf die Tanzfläche und schreit "los, tanz und sei auch mal gelassener!", was prompt zum Gegenteiligen, nämlich zu Schäm-Attacken meinerseits führte.
Ich sei doch Informatiker, da kann ich doch mal nach dem Laptop ihrer Tochter Una schauen. Sie reicht mir den Laptop. Sabrina ist nett und zuvorkommend in ihrer speziellen Art, wirkt aber irgendwie leicht verpeilt und schaut an mir vorbei ins Leere, während sie mit mir spricht. Ich habe das Gefühl, sie ist mit den Gedanken immer halb woanders. Ich frage sie, ob sie hier ihr Glück findet und was sie hier so macht. Sie schaut sekundenlang regungslos in den Raum, kneift die Augen zu und winkt ab. "I don't know what I'm doing here..." Sie lebt derzeit von ihren Behausungsvermietungen.
Während ich in einer Art Badezimmer im Garten stehe, geht sie zu den Deutschen und bereitet vor, dass ich jetzt kommen werde, natürlich wieder ganz zum Ärgernis ihrer polnischen Freundin, die das - ein wenig zurecht - übergriffig findet. Aber es meint ja niemand böse, also gehe ich brav und mutig hin und stelle mich auch mal vor. Da ist sie wieder, diese stetige, unterschwellige Angst davor, abgewiesen zu werden... wie in der Disko...
Vor mir stehen Simone und Harald. Um sie herum tanzt ihr zehnjähriger Sohn Emilio. Die beiden sind vor knapp 5 Jahren nach La Punta gekommen und wollten eigentlich nur 3 Monate hier bei Sabrina bleiben. Es wurden Jahre. Warum, frag ich. Simone erzählt, dass sie BWL studiert hat und aus Dresden kommt, Karrierefrau war, viel Geld verdiente. Harald ist Altenpfleger aus dem Sauerland bei Arnsberg und schon seit 20 Jahren auf der Insel. Sie hat ihn auf der Insel kennen und lieben gelernt, dann hat sie beschlossen ihr altes Leben aufzugeben. Beide wohnen seitdem in der Hütte von Sabrina, kaum größer als ein Wohnwagen. Sie machen Upcycling aus Sperrmüll und Kunsthandwerk, manchmal Altenpflege, was halt so kommt. Emilio lebt mit ihnen, ging hier in den Kindergarten und auf die Schule, dann Internetschule, dann Heimunterricht durch die Mutter. Harald kommt mir in seiner Aussteigerexklusivität überheblich vor. Er sei froh aus dem Spießerloch raus gekommen zu sein so schnell er nur konnte, erzählt er, während er seine Stifte sortiert. Simone wirkt ruhig und besonnen. Sie beizt gerade eine kleine Holzschranktür, die sie auf dem Sperrmüll gefunden hat. Darauf soll ein Bild entstehen, das sie dann auf dem Markt verkaufen will. Eines Tages hatte sie keinen Sinn mehr in Karriere und Sicherheitsbewusstsein gesehen. Sie meint, dass doch irgendwann jeder 30-50 Jährige in dieser Gesellschaft an den Punkt komme den Sinn des Ganzen nicht mehr zu begreifen. Harald pflichtet bei. Jeder muss erstmal wieder bei Null anfangen, um gesunden zu können. Zwei Wochen reichten da nicht. Auf der Insel wäre für sie beide alles einfacher. Ich würde das doch verstehen, ich gehöre doch auch hierher. "Du siehst doch auch gar nicht so aus wie die Käsedeutschen!", grätscht Emilio hinein. Harald schaut etwas verabscheut, als ich berichte, dass ich am 1.8. mein 20-jähriges Dienstjubiläum gefeiert hab. "Gefeiert?!?" Ich werde regelrecht langweilig. "Ach, du solltest besser hier sein.", sagt Emilio und nickt sich bestätigend zu. "Schau mal!" Er streckt die Hand aus. "Glitzerschleim, gibts unten im Laden für nur 1,25 Euro." Mir wird Schleim gereicht. "Hast du schon mein Tatoo gesehen? Er zeigt mir seinen Bauch. "Das war auch nicht teuer und hält schon laaange." Ich glaube ihm und muss gerade sehr an Noras zehnjährigen Sohn Leander denken, dem ich letztens ein Glitzereinhorn auf den Arm gemalt... also "tätowiert" hab. "Bis letzte Woche hatte ich noch lange Haare. Kannst du dir DAS vorstellen?" Ich schaue auf meine Haare... Neeeiiin was eeehrlich? "Ja! Aber mit Ponny, nicht so'n Pferdezopf wie du! Aber alle im Dorf haben mich dann immer Emilia genannt und da hab ich sie mir abgeschnitten, obwohl ich sie ja eigentlich mochte!"
Emilio choreografiert regelrecht, während er spricht. Ich nehme ihn auch mit kurzen Haaren eigentlich nur als Junge wahr, weil er im Gegensatz zu Sabrinas Töchtern kein Hemd trägt. Emilio geht schließlich rüber zu ihnen, um mit Schleim und Sahne in Unas Plastikküche neben dem Badhäuschen zu "arbeiten". Ich gehe und leere meinen Rucksack, um ihn für morgen schonmal vorzubereiten. Ich hab echt Schwein. Direkt unter dem Haus führt der GR 131 entlang und ich bin schon in 761 Metern Höhe. "Was ist das?" Emilio rennt zu mir und zeigt auf Herrn Bunt, der bei meinen Wandersachen liegt. "Herr Bunt", sag ich. "Und was macht er?" Sich überall fotografieren lassen, wo er noch nie vorher war! "Ah, ich verstehe! Dann darf er das auch mit mir!" Er nimmt Herrn Bunt und posiert, ich mache ein Bild. "So, und jetzt mit Papa und Mama!... okay nur Mama besser, aber... ich frag mal..." Er rennt zu Mama. Ich höre vom Weiten wie Mama sagt, dass langsam Bettzeit angesagt ist. "Ich darf nicht mehr kommen, gute Naaaacht!" klingt's über den Hof.
Die Sonne verschwindet im Dunst. Ich sitze in einem Wohnzimmersessel unter einer Palme, bis die Mücken kommen und mich ins Kinderzimmer zwingen, das ich jetzt doch für mich allein hab. Una schläft bei Mama, die anderen Geschwister spontan bei Freunden. Sehr gut, eine Mütze Ruhe kann ich vor dem morgigen Höhenritt noch echt gut gebrauchen.