Camino Real de La Palma

04.09.2020 La Fajana

  

"Caminante, no hay camino, se hace camino al andar."

Ich fühle mich wie ausgewechselt, wach und ausgeruht. Bin froh, dann war's doch wohl nur die übliche 48-Stunden-Ankomm-Depression, bis der Körper sich auf seinen neuen, bewegungs-bestimmten "Alltag" eingestellt hat, wenn auch deutlich verstärkter als letztes Jahr! Also nee, da kann ich dann doch nicht einfach hier rumliegen und beschließe nach dem Frühstück zum Meer zu laufen, d.h. 5 Kilometer und 650 Höhenmeter bergab.
Frühstück gibt's auf Abstand. Die Stoffbezüge der Bestuhlung sind einlaminiert. Allgegenwärtge Pfeile bestimmen den Gästeparcours. Frau Rodríguez macht Eier und hat einen Kuchen gebacken. Normalerweise wären hier jetzt mindestens 70 bis 100 hungrige Mägen und nicht fünf. So wird ein relativ großes Hotel, das sich vor allem in den hörigen Dienst von Pauschalreiseunternehmen wie ITS, TUI und Co. stellt, auf einmal zur persönlich geführten Familienpension. Sucht man nicht eigentlich genau das? Wenn es nicht so bitter wäre, würde ich sagen, dass die Corona-Ebbe im Moment überall auf der Insel genau die Stimmung erzeugt, die die Kataloge versprechen. Entspannung, Ruhe, Abstand, Selbstverwirklichung... Rentnerbingo nach der Dinnerschlacht und One-Man-Keyboardentertainment fallen dagegen leiiider aus. Deutsches Fernsehen auch, der LNB der Satellitenschüssel ist zerbröselt. Der Techniker kommt zur Wintersaison erst wieder. Man wird regelrecht zur Entschleunigung gezwungen.
Gegen Mittag steige ich auf einem grünweiß markierten Weg mit der Nummer 41 hinab zur Küste. 3,8 Kilometer... jaja. Durch Kakteenwälder und fenchelüberwucherte Wege. Alles pikst. Irgendwie hatte man 2020 keinen Bock auf Wegerestauration, befürchte ich. Es dauert zwei Stunden und ich bin voller juckendem Irgendwas. Wurscht, es wartet ja die Meerwasser-Piscina an der Atlantikküste... In La Fajana haben wir damals bis zum Einbruch zwei Tage in einem Ferienhaus gewohnt, das jetzt offensichtlich in liebevoller privater Hand gelandet ist. Ein schöner Garten wurde rings herum angelegt und die an der Steilwand zum Atlantik hin abgebröckelte Gartenkultur restauriert. Weiter unten klebt das erwartete Fischrestaurant im Fels, daruter besagtes Becken. Toll! Aber wo geht's nur lang? Ich muss erstmal einer weiteren Schnitzeljagd und einem Schilder- und Begrenzungswald folgen. Ein Aufpasser erklärt mir, dass die Corona-Bestimmungen besagen, dass ich nur mit Badesachen runter darf. Aha, meine Klamotten sind wohl ansteckend. Egal. Der Atlantik und das angrenzende Meerwasserbecken sind außergewöhnlich warm, finde ich. 24 Grad bestimmt. Herrlich.
Viele spanische Familien sind hier, eigentlich nur. Mir scheint, die Spanier nutzen, was sie haben und das zu guten Preisen. Ich setz mich auf die Treppen und schaue mir das Treiben an. Eile hab ich nicht. Eine Familie mit zwei Kindern kommt zum Einstieg eines der Becken. Sie fällt mir auf, weil die Kinder so ungleich sind. Ein dunkelhäutiger etwa fünfjähriger mit dunkelbraunen Haaren, dazu ein weißblonder, zweijähriger, der meinem Leander extrem ähnlich sieht. Mein Blick bleibt auf ihm haften, wie er versucht vom Beckenrand zu springen und Überwindungsangst hat. Viele Anläufe und Zureden von Mama, Opa und Oma braucht es, dann ist er drin. Schräg. Ich merke, wie ich minutenlang mitgefiebert und mich gefreut hab, dass er sich schließlich getraut hat. Naja, könnte halt mein eigener Sohn sein, der da gerade mutig ist.
Vor 12 Jahren haben diese beiden kleinen Leben noch gar nicht existiert, denke ich vor mich hin. Da haben sich vielleicht die Eltern nicht mal gekannt, so wie ich mein eigenes Hier und Jetzt damals nicht so vorhergesagen hätte können, mit Corinna, mit völlig anderen Zukunftsplänen. Wir Menschen machen uns Gedanken über den Erhalt dessen, was wir gerade im Moment überblicken können, und darüber hinaus über Lebensverlängerung und über ein Leben nach dem Tod. Beim Anblick des blonden Jungen scheint mir das mehr denn je absurd. Leander war vor 12 Jahren nicht mal ein Plan. Warum soll eine weitere Existenz nach einem gelebten Leben einen erhaltenswerten Stellenwert haben. Mir erscheint eine Existenz vor einem zu lebenden Leben eigentlich höherwertiger. Sollten wir nicht viel mehr der Leben gedenken, die da kommen werden, so wie wir es mit den vergangenen Leben tun? Geburtssteine statt Grabsteine. Im Gegensatz zur Auferstehung sind neue Leben sogar denkbar einfach zu produzieren. Unsterblichkeit ist dagegen auf Dauer doch echt langweilig, vor allem für den Unsterblichen. Wir müssen uns als Individuen dringend wieder weniger wichtig nehmen, dann geht's uns allen echt besser...
Oh mann, was für ein wirrer Gedankensalat, der mich langsam ab vom Jungen und hoch zum Terrassenrestaurant schielen lässt, denn mein Bauch meldet sich entnervt: "Dieses Individuum hat jetzt echt Hunger und will Fisch essen!" Es gibt vor allem Thunfisch in allen Variationen. Ich bestell was, das schön klingt und bekomme ein Häufchen kalten, rohen, gehäckselten Fisch und kanarische Kartoffeln. Ups. Ist das die Vorspeise? Ühm... Ich soll das mit Holzstäbchen essen. Hm. Schmeckt besser, sagt die Kellnerin. Öhm... Aha. Ich schweige das Essen ein paar Minuten an... eine Denkblase mit einem saftigen Burger ploppt über mir auf und zerplatzt. Na komm, kälter wird's nicht.
Es schmeckt wider Erwarten bombe und das Häufchen entpuppt sich am Ende doch als recht üppiger Schlag. Tártaro... ach ja jetzt kann ich das schöne Wort auch wieder zuordnen. Gute Grundlage für den Rückweg. Der wird anstrengend werden. Hochwärts walze ich den Fenchel einfach platt. Oben im Hotel erwartet mich ja ein Pool, in den ich gleich versinken kann. Ich lasse mir Zeit... und entdecke dabei eine ganze Reihe kurioser Sinnlosigkeiten, die es dringend bildlich zu dokumentieren gilt. Wer findet sie alle? :-)
So war es heute sogar anstrengender als gestern. Der Unterschied ist, der Kopf ist heute leicht. Cool. Aber zeichnen werde ich jetzt trotzdem. Und ich weiß auch schon was, bzw. wen.