Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

22.06.2022 Ødelæggelse

  

Morgens verquatsche ich mich mit Sebastian und bin dabei meinen Zug zu verpassen. Ich lasse Basti zurück und hechte zum Bus, der mir vor der Nase davon fährt. 18 Minuten habe ich noch, bis mein ICE nach Hamburg Altona abfährt. Da muss ich die Beine in die Hand nehmen und renne zum Potsdamer Platz. Ein Bus kommt. Ich steige ein und merke schnell, der fährt völlig falsch. Ich will nicht in die Mohrenstraße. Gleichzeitig bin ich verwundert, dass heutzutage eine Straße noch Mohrenstraße heißen darf. Aber egal, ich kann das vergessen… oder doch nicht? Ich renne einfach los, am Brandenburger Tor vorbei, an den Regierungsgebäuden, weiter zum Bahnhof auf Gleis 7 (tief) und kann es kaum fassen. Da steht ein Zug nach Altona und ich hechte hinein. Es ist der falsche. Den hab ich nicht gebucht. Ich bin auf Gleis 8 eingestiegen. Wie dämlich ist das denn, da standen zwei ICEs nach Altona direkt nebeneinander. Egal. Ich lasse mich vor der Tür auf den Boden sinken. Ich bin schweißnass. So will ich mich niemandem im Abteil antun, sage ich der Schaffnerin, die mich gerade ins Abteil dirigieren will. Sie nickt verständnisvoll. Irgendwann werde ich wieder kühl und gehe aufs Klo, umziehen. Jetzt kann ich wieder unter Leute.
Ein übermotovierter Zugchef holt all seine Stand Up Commedian Küste heraus und wünscht uns Spiel Spaß und Spannung bei der 90minütigen Durchfahrt ohne Halt von Spandau nach Hamburg Hauptbahnhof. Zwei Stunden später bin ich in Altona und suche eine S-Bahn, die mich zu einem P&R-Parmplatz fährt, auf dem ich mich mit meiner Schwester und Karl vereine. Gemeinsam zünden wir die letzte Fackel an. Sie wird grell werden. Es geht zu Rammstein nach Århus in Dänemark. Besser geht’s nicht für dieses Staffelfinale, als in meinem Lieblingsland abzuschließen, denke ich mir. Christina hat ein kleines Hotel vor der Stadt gebucht für heute. Das Konzert findet im Ceres Stadion statt. Das bedeutet: Århus steht nahe einem infrastrukturellen Kollaps. Zehntausende Fans und Autos streben dem Stadion entgegen, das für einen solchen Ansturm nicht ausgelegt ist. Wir landen im Fischereihafen, bevor wir endlich einen Parkplatz finden. Viele Deutsche sind hier. Es herrscht Park-Anarchie.
Während der Pilgerwanderung zum Einlass vereinen sich die Ströme aus allen Richtungen zu einem schwarz-dominierten Aderfluss in Richtung der Wirkungsstätte. Es ist friedlich. Wir Deutsche sind für diesen Abend Teil des Events, scheint mir. Heute wird neue deutsche Härte gefeiert, endlich nach 2 Jahren und drei Anläufen. Wir bekommen Underberge geschenkt, man bemüht sich deutsch mit uns zu sprechen. Das Farbspektrum ist so einseitig, dass ich tatsächlich auffalle in meinem mitgenommenen Wanderlook mit langer sonnenblondierter Mähne und barfuß wie eine Leuchtboje. Ständig werde ich in verbrüdernder Art und Weise angesprochen. Ich genieße es, gebe ich zu, nicht Teil des Grundtenors zu sein, sondern in positiver Art und Weise absonderlich zu wirken. Das geht offensichtlich auch ohne Tatoos, Piercings oder bunte Haare.
Karl fragt mich nach meinen Lieblingsliedern von Rammstein. Ich habe aber keine. Das ist nicht meine Musik. Ich bin hier, weil es sich anbot. Karl und Christina wollten unbedingt in Deutschland hin, aber nach 30 Minuten waren alle Karten weg… außer in Vilnius und Århus, dort erst nach 60 Minuten und ich hatte glück, ergatterte drei Innenraumkarten. Das wollten wir vor zwei Jahren mit einem Familienurlaub in Fjellerup verbinden, 30 Kilometer von hier. Es kam Covid-Bedingt ganz anders. Jetzt sind wir hier.
Das Konzert ist ein multimediales Spektakel für die Massen, Leute durch alle Generation hindurch. Ich behaupte, ein Großteil der Leute ist, wie ich, nicht primär wegen der Musik hier, sondern wegen des berüchtigten pyroklastischen Spektakels, das so anziehend scheint, wie dass man wenigstens einmal live bei den Rolling Stones war. Århus ist sichtlich nicht der Nabel der Welt, was einen großen Vorteil mit sich bringt: man ist nirgends weit weg vom Geschehen.
Alles tanzt und springt, die gewaltige Bühne gleicht einem diabolischen Altar. Was hier zelebriert wird, ist Ersatzreligion. Gestandene Männer um mich herum fangen an zu weinen und werden von anderen, harten Kerlen getröstet. Till Lindemann hat uns mit seiner Stimme als Priester der zynischen Weltsicht unter seinem Kajal-überzeichneten Joker-Face fest im Griff, während seine Feuer-, Licht- und Klangorgel uns die Nasenhaare aus dem Gesicht rasiert. Wer braucht schon Engel, wenn der Rammstein uns das Ende aller Tage bekehrend ins Gemüt dröhnt.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Inszenierung eine Gesellschaft verbindet oder entzweit. Wir alle sind Brüder und Schwestern oder gar Jünger im Stadion. Und darüber hinaus? Ist das für den ein oder anderen auch sinnstiftend über den reinen Unterhaltungsfaktor hinaus? Im Gleichschritt Marsch als sakastisches Spiegelbild des Dritten Reiches? Nicht wirklich. Auch die Ukraine-Flagge darf heute nicht fehlen als Zeichen der allgemeinen Solidarität. Das Lied „Moskau“ wird vorsorglich nicht gespielt. Lindemann nimmt sich augenscheinlich selbst auf die Schüppe, zeigt, dass das hier eine Inszenierung ist, ein Stil, der hart, aber kontrolliert ist. Ich muss an Ego-Shooter denken. Niemand wird zum Mörder, nur weil er seinen Mitspielern die digitale Birne vom Hals bläst. Gleiches gilt auch hier. Ich genieße diese Abrissbirne für die Seele. Wir alle freiern ein Deutschland-Produkt. Es ist sehr schräg, deutsches Liedgut aus Leipzig in Dänemark zu zelebrieren und faszinierend zu sehen, wie Dänen darauf reagieren und zumindest für heute gerne mal deutscher als die Deutschen sein wollen.