Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

21.06.2022 Midtsommer

  

Der Sommer beginnt, es ist Mittsommer und es ist wieder warm. Der nächste Lampion der Lichterkette steht an. Sebastian und ich machen heute Männerabend und welche Musik könnte für zwei Kerle wie uns beide besser dazu geeignet sein als die elfengleiche Stimme von Aurora. Er kommt um 14 Uhr am Potsdamer Platz an und ich vertreibe mir die Zeit mit einer Ausstellung von Hollywoodfotografie von Helmut Newton am Zoologischen Garten. Er portraitierte neben vielen Stars auch die Schattenseiten von Los Angeles.
Das ist auf Dauer schon berauschend. Kultur ballt sich in dieser Stadt zu einem unübersichtlichen Klumpen, wenn man nicht aufpasst. Überall stolpert man darüber und es lohnt sich genauer hinzusehen. Ich selbst kann in der Zeit hier nur Funken wahrnehmen, aber die dafür umso intensiver, bis ich schließlich Sebastian abhole. Auch er ist nicht häufig in der Hauptstadt. Nun sind wir beide hier aus gutem Grund. Also lass uns vor wichtigen Gebäuden unserer Demokratie ein paar Selfies machen. Nicht nur wir tun das. Alle tun das, manche sehr exzessiv, viele Mädchen inszenieren sich routiniert als Social Media Produkt. Überall fliegen Regenbögenflaggen im Wind. An der Amerikanischen Botschaft hat sich die Flagge sogar erweitert um ein pastellfarbenes Dreick. Der Bahnhof, Kirchen, Museen, Häuserfassaden. Alle stellen Regenmogenflaggen und vor allem Ukraineflaggen zur Schau. Ich hoffe, dass die Bewegungen hinter den ganzen neuen, omnipräsenten Flaggen überall im Land wirklich verstanden werden. Ich habe das Gefühl, alle werden gerade Pride-Fans und Ukraine-Fans und holen sich passend zu ihrer neuen Geschmacksrichtung die passenden Flaggen, um sie sich ins Fenster zu hängen und sich zu bekennen. "Ich bin einer von den Guten. Ich habe mein Werk getan, um mich vor der dunklen Seite der Macht zu distanzieren." Das hier ist aber kein Popkonzert. Ich bin nicht schwul, ich bin kein Ukrainer, so wie ich auch kein Syrer, Äthiopier oder Afghane bin. Ich male mir keinen blaugeben Wachsmalerstreifen auf die Backe wie bei der Fußball-WM. Ich müsste mich für viele Flaggenfarben Kriegsgeflüchteter bekennen. Die Pride Progress Flagge bündelt sie nahezu alle. Berlin ist nicht Ukraine. Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland mit all seinen Farcetten, seiner hoffentlich nicht nur zur Schau gestellten Offenheit für Unterschiede und mit einer funktonierenden Asylpolitik für Flüchtlinge. Ein Bekenntnis zu Pride oder der Ukraine ist nicht das Selbe wie ein Bekenntnis zu Aurora.
Doch jetzt ist es an der Zeit, sich zu der Musik dieser 26-jährigen Norwegerin zu bekennen. Wir schlendern langsam zum Tempodrom, essen was bei einem Thailänder und kommen entspannt vor den Türen der Halle. Ich hätte mehr Andrang erwartet und vor allem mehr Kreischies bis 20 Jahre. Aber das hier ist ganz offensichtlich nicht Ellie Goulding sondern eine vergleichsweise unbekannte Norwegerin, über die man nicht unbedingt im Radio stolpert, sondern auf Skandinavienreisen oder wie ich 2015 bei Silberspeed Records in Potsdam, weil mir das Plattencover der EP gefiel. Viele viele schöne Menschen hier, durchaus auch älter. Diesmal keine Väter, aber jung gebliebene Menschen der vorherigen Generation. Die Stimmung ist entspannt, man singt sich gemeinsam ein. Ein buntes Pärchen verteilt auch Regenbogenflaggen wie die auf der Botschaft. Pride Progress nennt die sich und ist quasi der nächste Evolutionsschritt der Akzeptanz von vielgeschlechtlichen Unterschieden.
Die Türen gehen auf. Sebastian und ich Rasen in die Halle, wir wollen vorne stehen. Um uns herum versammeln sich viele junge entspannte Gestalten und einige Herren an die 60. Ich frage einen von ihnen, warum gerade Aurora. Ich finde das beachtlich, weil sie doch eigentlich gar nicht die Zielgruppe sind. Denkste. Mein Frontnachbar ist jetzt zum 15. Mal in einem ihrer Konzerte, zweie auch schon in Norwegen, fünf in London. Ein Groupie über 50, ich fasse es nicht. Es wird einen Flashmob geben, verrät er mir, und drückt mir 100 Dollar Noten mit dem Konterfei von Aurora in die Hand. Ich würde das schon mitbekommen und soll die Scheine dann in die Luft werfen.
Das Konzert beginnt mit zwei Vorbands, dann ist sie da, es wird laut und ab dem ersten Lied begreife ich die Anziehungskraft dieser 26jährigen Norwegerin, die mit ihrer Bühnenpräsenz die Halle so in Bewegung bringt, dass es keine optischen Aufwertungseffekte braucht, außer eine weiße runde Leinwand und ein wenig Farbe darauf. Über die Bühne schwebt, fliegt und stampft eine kleine, zierliche Frau mit großen Gesten und klaren Botschaften für eine Friedensrevolution und umschließt sie mit ihrer einfühlsamen Musik so intim und berührend, dass selbst Männer um mich herum in Tränen ausbrechen. Geschenke fliegen auf die Bühne. Aurora bedankt sich mit zirpender Stimme, die so gar nicht zum Selbstbewusstsein der musikalischen Darbietungen passen will. Ihre Musik offenbart sich eben auch als inszeniertes Produkt, während Aurora in ihrer Muschelschale sitzt, unsere Gefühle besingt und das Private schützt und ummantelt wie eine Perle. Das ist legitim. Sebastian feiert, ich feiere und wir freuen uns, dass das geklappt hat mit unserer gemeinsam verordneten Kinderauszeit.
Tatsächlich berührt mich die Musik selbst sehr stark, weil ich sie mich oft über die Lockdown-Zeit der letzten zwei Jahre getragen hat und ich kann alles mitsingen. Auch sie inszeniert die Weltoffenheit, schwinkt eine Pride Progress Fahne wild über die Bühne und wir alle schwingen mit.
Viel zu schnell ist es vorbei und wir merken, dass unsere Lieblingsstücke nur gestreift wurden. Wir müssen uns eingestehen, dass wir schon „zu tief drin“ sind. Da erwartet man zu viel für zwei Stunden Konzert. Trotzdem sind wir gebannt von dem Energiebündel. Die Halle unterstützt das gute Gefühl nur. Runde Hallen sind akustisch einfach perfekt.
Wir trinken uns nach dem Konzert von Spätkauf zu Spätkauf zurück zum Hotel, reden über Gott und die Welt, bis es schließlich zwei Uhr ist und der Tag zwangsläufig sein Ende finden muss, weil uns alten Säcken sie Äuglein zufallen. Es ist schon surreal, dass ich morgen auf dem Weg nach Dänemark bin, zum letzten Lampion dieser Reise, das einen krassen musikalischen Counterpart zu allem Vorherigen darstellt. Aber es passt ins Nordische, denke ich. Wir werden sehen. Aber jetzt erstmal gute Nacht. Ein herrlicher Tag war’s.

P.S.: Es gibt tatsächlich Konzertbesucher, die das ganze Konzert mitschneiden und in die sozialen Medien stellen. Ich meine cool, so hab ich einen Konzertmitschnitt als kostenloses Souvenir, aber ich frage mich, ob das nicht die Schattenseite der ungebändigten Medienmöglichkeiten ist, wenn die Konserve, die Likes wichtiger als das eigentliche Erlebnis werden. Ich habe die Autorin gefragt, wie sie das sieht und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

"Danke für deinen Kommentar und schön, dass dir das Video gefällt. Ich bin ein leidenschaftlicher Konzertgänger und habe Freunde auf der ganzen Welt. Viele davon können es sich nicht leisten so weit zu reisen, um das zu erleben, was wir können. Ich verdiene nichts an dem, was ich da tue und ich mach das nicht nur für mich, sondern auch für andere. Zudem halte ich meine Kamera stets weit unten, dass sich andere nicht gestört fühlen. Mir sowas [d.h. dass sie nur für die Konserve da ist] zu unterstellen finde ich ein bisschen schade . Ich bin auf vielen anderen Konzertrn von ihr, bei denen ich NICHT filme wie z.B. in 2 Wochen. Wünsche dir noch einen angenehmen Abend, bleib gesund!"

Der technologische Fortschritt ist rasant. Mittlerweile kann man mit Smartphones Filme in veröffetlichungsreifer Qualität produzieren. Aber rechtfertigt diese Möglichkeit den ungehemmten Einsatz, um ein ganzes Konzert für vermeintlich gemeinnützige Zwecke auf sozialen Netzwerken zu veröffentlichen? In kurzer Zeit, vielleicht in zwei bis fünf Jahren, werden Dank 6G und den gemeinnützigen Einsatz von Fans mit "Freunden auf der ganzen Welt" Streams in Echtzeit, 8K, VR und Surround Sound direkt aus der Halle für alle Bedürftigen da draußen möglich sein, sodass alle teilhaben können, die nicht ins Konzert kommen können. Ich werde in einen Gewissenskonflikt kommen. Faszinierend ist es ja schon und mir stellen sich mehrere Fragen, deren Antworten sich ggf. sogar herausfinden lassen:

1) Muss ein Künstler in naher Zukunft klaglos akzeptieren, dass ein Konzert unweigerlich auch immer eine hochwertige Echtzeit-Übertragung duzender Besucher in die sozialen Medien ist, an denen andere zumindest in Form von bspw. zwei Youtube-Vorschaltwerbungen mitverdienen?

2) Wie selbstlos wird die Autorin des Full-Show-Videos reagieren, wenn sie gleich von mir erfährt, dass ich ihr Video auf meine Website kopiert habe, auf der "meine Freunde auf der ganzen Welt" sie völlig gratis ohne Youtube-Vorschaltwerbungen konsumieren können?

Ich will es ein bisschen provozieren. Immerhin hat sie mich ohne mein Einverständnis vor der Halle gefilmt und den Stream für 1.080 Kanal-Follower und 11.500 Viewer (7 Tage nach Veröffentlichung) veröffentlicht, drei mal mehr Menschen, als in der Halle waren. Das stört mich ansich nicht. Ich mache auch einfach Fotos von Leuten, die vor dem Brandenburger Tor posieren, ohne das Einverständnis eingeholt zu haben und gehe damit ein gewisses rechtliches Risiko ein. Ich will ihr Video sogar haben, weil ich drauf bin. Aber ich hebe schmunzelnd die rechte Augenbraue ob ihrer altruistischen Einstellung. Ich möchte diese Einstellung teilen und bin so begeistert von der Filmqualität, dass ich ihr Video ganz in ihrem Sinne gemeinnützig auf meine Serverkosten, ohne Werbung und ohne Likes an alle weiterverbreite, die es sich nicht leisten konnten dabei zu sein. Sie kann sich ja bei Aurora beklagen, falls ich einfach ihr geistiges Eigentum klaue. Vielleicht wäre ich... und vielleicht auch Aurora... gerne einfach gefragt worden, bevor ein Medienprodukt werbefinanziert vermarktet wird, in dem Tausende mich sehen, die nicht im Konzert waren.