Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

04.06.2022 Go West!

  

"While democracy is losing its way And greed is getting greedier Console yourself with a selfie or two And post them on social media"

Frances und Leander verabschieden mich am Bahnhof und ich steige ein in den 9-Euro-verspäteten und 9-Euro-vollen Doppelstockzug nach Westen bzw. wie Leander feststellt "auf die große Reise"... noch nicht auf den GR133 natürlich, aber der Weg beginnt eigentlich schon jetzt und das erste, heutige Etappenziel heißt Rudolf Weber Arena. Der Bahnsteig ist voll wie selten. Alles muss sich dieses Jahr entladen, scheint mir. Corona geht zu Ende, die Leute wollen weg, ich will weg. Und zumindest kulturell führte die Pandemie zu einem Eventstau zweieinhalb Jahre lang verschobener Konzerte hinein in diesen Juni. Gleich fünf an der Zahl bei mir, die ich quasi in einem Urlaub als bunte, laute Lichterkette um den Teide herum spannen und endlich abfackeln kann. Abgesehen davon soll Deutschland jetzt Bus und Bahn entdecken... für umme... für alles. Es kommt in Anbetracht der Benzinpreise und 8,2% Inflation augenscheinlich vielen sehr gelegen. Wenn es nicht so bitter wäre, warum ich jetzt 9-Euro-umsonst fahren kann, wäre es in erster Linie ein spannendes, gesellschaftliches Experiment. Es muss wohl immer erst einen einschneidenden Konflikt geben, bevor effektvolle Maßnahmen getroffen werden und nachvollziehbar unsubtil gesprochen und beschlossen wird. Ist das teuer? Naja, im Vergleich zu was?... an einem Ort mit seit Jahrzehnten als selbstverständlich angenommenen Freiheiten. Es gibt mit Blick nach Osten weitaus teurere, sinnlosere Dinge. Mit Blick nach Westen warten die Pet Shop Boys mit subtilen, urbanen Gesellschaftsbetrachtungen auf stampfenden Sythiebeats und spielen auf mit Titeln aus einer seit über dreißig Jahren vergangenen Zeit, in der Bonn noch Hauptstadt war und als solche sogar besungen wird. Und die über 60 jahre alten Jungs klingen gepaart mit ihren aktuellen Veröffentlichungen wie am ersten Tag. Das muss man erstmal hinbekommen. Oder zeigt es nur, dass wir seit den Achtzigern unter der Fassade des technischen Fortschritts eigentlich keinen Meter vorangekommen sind?
Markus wartet auf mich und wir fahren in seinem StreetKA mit heruntergelassenem Dach durch Essen nach Oberhausen. Im CD-Schacht dudelt eine 32 Jahre alte Scheibe "Being Boring" zur nostalgischen Einstimmung auf den Abend in den Fahrtwind und spricht in mancherlei Hinsicht aus der Seele. Manches hätte in letzter Zeit nicht passieren sollen. Aber das hier "after two years of delay", wie der 67-jährige Neil Tennand auf der Bühne konstatiert, auf jeden Fall. 10.000 Fans zwischen 14 und 70 Jahren stimmen ihm gleichwertig zu. Als das Konzert anfängt wird deutlich, dass die Bestuhlung im Innenraum nicht zum sitzen, sondern als Abstandshalter gedacht ist. Alle reißt es vom Hocker. Auch wenn etwa ein Drittel mit Rücken immer mal zum Pausieren auf die Schemel herabsackt, die Hände bleiben oben! Viele sind als Familie da. "Die Tochter muss mit. Guck mal, Tochter, das war meine Zeit!". Muss man der Tochter aber nicht sagen, es ist augenscheinlich auch Ihre, mit schwarzem, bauchfreiem Top und Hot Pants gepaart zu weißen Tennissocken und Sneakern, bewaffnet mit Selfie Stick und Sefie Blick für den Insta-Kanal. Papa ist heute Abend nicht peinlich jung, er ist mit im Bild.
Markus und ich verselfien uns auch... vor einer WDR4-Flagge und sehen erstaunlich jung aus, wie wir finden. "Hier, WDR 4!" klingelt mir ein alter Jingle durch den Kopf. So weit ist es gekommen mit uns, meint Markus. Aber wenn das heute Schlager und Nostalgie bedeutet, sind wir dabei. Ich darf mich heute sogar richtig VIP fühlen und als oller Volksbank-Genosse die Halle über einen einen Extra-Eingang betreten.
Auf Bushaltestellenplakaten in der Stadt, am E.ON Hauptquartier, vor Kirchen, vor der Halle in der Neuen Mitte Oberhausens, am Merch Stand der Pet Shop Boys, überall sind jetzt Regenbogenflaggen en vogue. Ich habe am Ende des Tages das Gefühl, dass unter der politisch aufgeheizten Fassade in über dreißig Jahren doch etwas passiert ist. Ich hoffe, speziell mit Blick auf die vielen, gehissten, gelbblauen Flaggen in Gegenüberstellung zu den beiden, einst gelbeblauen, Pilzköpfen heute abend, dass es nicht nur bei einer gleichartigen, gemütsbefriedigenden Fan-Kondolenz bleibt in Hinblick auf das, was gerade rund um uns herum passiert mit unseren selbstverständlichen Freiheiten.