Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

05.06.2022 Zeitreise

  

Markus konnte mich im Ersatzzimmer des kleinen Stadthotels einquartieren, in dem er arbeitet. Gegen Mittag geht es weiter in Richtung westen an den Rhein. Gegen Mittag habe ich mich in Köln Deutz mit meiner Schwester verabredet, um gemeinsam mit ihr auf Gleis 9 zum nächsten Lampion der Lichterkette zu fahren, vom urbanen Heartbeat zum melodischen Counterpart des harfenspielenden "Pilgrim von the path of love" Andreas Vollenweider. Das Konzert war lange auf der Insel Grafenwerth angesetzt, mitten im Rhein, 3 Jahre lang, bis es vorgestern adhoc aufgrund eines Gerichtsentscheids von der Location verbannt wurde ins Brückenforum nach Bonn Beuel. Ich dachte wegen des Wetters. Es sollte regnen. Grund war aber eine Klage von Umweltaktivisten. Ein großer Teil von mir will kein Verständnis dafür haben. Es fällt mir schwer mich in meiner Meinung zurück zu halten und das nicht als Schwachsinn zu verurteilen, ohne dass ich die Hintergründe kenne. So nach der Art "wäh, wieder so ne Fledermaus, die nicht brüten kann oder sackt etwa die Insel ab, wenn sie zu viele Leute betreten?!" Aber wenn uns die Entwicklungen der letzten Jahre und Monate eins gezeigt haben, dann dass unergründete Meinungsbildung gefährlich ist. Das hier ist eine Trivialität. Ich halte mich zurück und akzeptiere, dass es Gründe gibt, die ich nicht verstehen oder kennen muss.
Musikalisch ist es heute sehr gegensätzlich zu gestern. Das Publikum ist jetzt erkennbar älter. Viele weiße Haare, ein paar wenige Komm-mal-mit-Kinder. Gepflegter Mittelstand. Alle sind früh da. Die Platzwahl ist nicht geklärt nach dem Verlegen ins Forum. Und so steht man vor der Halle herum und hat Zeit sich gegenseitig zu beschnuppern. Alle mögen New Age Musik, so dass sich in der Warteschlange ein einheitlicher Gesprächsfaden von Nachbar zu Nachbar zieht. Wir kommen mit einem älteren Paar ins Gespräch. Sie sind extra aus Gent in Belgien angereist. Es wäre zu besonders. Schließlich gibt es nach 12 Jahren Abstinenz nur ein einziges Konzert von ihm. Naja, der Mensch macht nur noch Musik, wenn er will. Im Saal kommen wir mit einem Paar aus Düsseldorf ins Gespräch. Viele Gemeinsamkeiten sind da. Er arbeitet in der Energiebranche als Hochspannungsinspektor, ist technikversiert und hat sich einst seine eigenen Boxen gebaut, war in jungen Jahren vor langer Zeit Roadie für Stars wie Tina Turner, Joe Cocker und Peter Maffay. Geile, anstrengende Zeit, immer wieder eine Anekdote wert zum very special fühlen, erst recht heute Abend. Wir beide kennen die Musik seit nunmehr fast 40 Jahren... diese Zahl ist etwas erschreckend für mich, merke ich. Einst, anno 1983, überspielte mir mein Vater für meinen kleinen Kassettenrecorder "Caverana Magica" auf Seite B einer TDK SA 90 gepaart mit Mark Knopflers "Local Hero"-Soundtrack auf Seite A... und der Schaden war angerichtet. Indoktriniert durch tausendfache Berieselung beim Holzklötzchen aufeinanderstapeln im Kinderzimmer sitze ich 39 Jahre später hier und feiere die Kindheit. Gegen jede Kritik bin ich nicht in der Lage diese Musik schlecht zu finden.
Eins verbindet die Pet Shop Boys mit Vollenweider: die Euphorie der 80er Jahre, mit neuen, technischen Möglichkeiten gänzlich neue Klangsphären zu schaffen, zu tüfteln, zu manipulieren, elektronisch zu verfremden. Das zog auch das Hauptpublikum in den Bann... technikaffine Bastler, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung eine Musik fanden, die anfangs keinem Genre zuzuordnen war: ist es Jazz? Klassik? Pop? Das zu bestimmen war Anfang der 80er tatsächlich eine Herausforderung, speziell für die damals noch so wichtigen Albumcharts. So begründete Vollenweider unfreiwillig eine neue, kommerzielle Schublade, um musikindustrielle Klarheit in den Plattenläden zu schaffen: New Age.
Heute ist das oft verschrien als Ökomucke. Naja. Um mich herum sind die Leute doch recht einheitlich angezogen in Holzfällerhemden zu Brax Jeans. Ich bin so ziemlich der Einzige in Sandalen und Bommelponcho und damit zumindest optisch dem Ökoregime am ehesten zuzuordnen. Mein Sitznachbar und ich überlegen schmunzelnd, wo neben Vollenweider wohl die größte Korrelation im Publikum bestehen könnte und kommen auf drei Sachen: Stereoplay lesen, Musikanlage von Technics oder Onkyo besitzen, technikbegeisterter Bastler sein. Keine adäquate Definition von Öko oder Hippie. Tatsächlich merke ich erst jetzt mit dem Abstand der Gleichgültigkeit, dass heute technisch alles für alle möglich ist, wie sehr diese Musiker und wir Fans nerdigen Informatikern gleichen. Und auch in den Kompositionen finden sich viel Mathematik, kindlicher Spieltrieb und häufig nur kaschietende Ornamentkomplexe um banale Grundthemen wieder. Im Vordergrund vor der eigentlichen Musik stand das technisch Machbare auf die Spitze zu treiben und "Digital Recording" in Schriftgröße 72 in DS-Digital-Schriftart auf das Schallplattencover zu plakatieren. Für Auserwählte holte ein CBS CX Chip sogar noch unmögliche 130db mit Rauschunterdrückungstechnologie aus der verkratzten Rille. Heute nennt sich das Dolby Atmos und jedes Handy kann das. So bleibt als "Unique Selling Point" nurmehr die Musik. Langweilig? Naja... ich glaube, ein Vollenweider hätte es heutzutage schwer aus der kreativen Vielfalt auf den neuen Kanälen wie Tic Toc, Bandcamp oder Soundcloud hervorzustechen. Es gibt viele viele Sternchen am Himmel in der heutigen Zeit und jedes strahlt ein weilchen, ein bisschen. Musik kann heute jeder mit einem Tastendruck in Sekunden viral bringen. Der versierte Ü-60-Fan postuliert dazu: "Heute gibt es sowas nicht mehr", wenn die jungen Kanäle nicht relevant und damit nicht begreifbar erscheinen. Wer beschäftigt sich schon intuitiv mit den Interessen der übernächsten Generation. Ich merke selbst, wie ich mich dazu zwingen muss, Tic Toc und Co. nicht zu verurteilen, sondern als Fortentwicklung von Kultur zu begreifen, denn irgendwann werden auch diese Teenies Ü-60 sein und dann sicherlich nicht Opas Weisheit anschließen, dass das Wählscheibentelefon doch besser ist als ihr Smartphone. Hoffentlich aber, dass Technologie nur ein Transportmittel ist und nicht die wahre Kern.
Das Konzert macht Riesenspaß, Andreas Vollenweider hat nach 12 Jahren Abstinenz sichtlich ebenfalls Riesenspaß und das ist extrem ansteckend in der improvisierten Ersatzlocation, die einer Schulaula gleicht. Wir alle sind eigentlich froh, nach fast drei Jahren doch hier zusammen gekommen zu sein. Ein weiser alter Gandalf ist er optisch geworden. Für mich wird er wohl immer in einer magischen Höhle im Jahre 1983 musizieren.
Und es war ein schöner Flashback, die bonner Rheinbrücke nach 12 Jahren zu betreten und zu sehen, dass das Wochenkino WOKI am Bertha-von-Suttner-Platz wie eh und je alte Blockbuster für ne schmale Mark zelebriert. Vor 21 Jahren habe ich dort Matrix 1 geschaut für 5 Mark, als Markus hier noch Biologie studiert hat. 21 Jahre. Schauder. Aber immerhin nicht Schauer. Der Regen blieb aus.