Blickwinkel Frances

Grönland

Am Ende bleibt nur das Wesentliche übrig. Die ganze Zeit auf dem Weg, auf dem ich weder zum Tagebuch schreiben noch zum Fotografieren Lust hatte, hab ich mich gefragt, ob wohl das Verhältnis zwischen Anstrengung und Lohn stimmt. Jetzt sitze ich seit gestern im Vandrehjem in Sisimiut, die Füße sind erholt, der Geist ausgeschlafen, und stelle fest, dass alle Strapazen auf einen Schlag vergessen sind und übrig bleibt nur das Gefühl: was für ein unglaubliches Abenteuer und was für ein Segen, dass ich das erleben durfte. Es ist immer wieder ein Grenzgang, oft war ich an dem Grenzen meiner körperlichen Belastbarkeit - oder war es doch eher die geistige? Denn dem Körper genügte schon immer das Ende der Strapaze, um sich gleich um 100% besser zu fühlen. Wie auch immer, es flossen einige Tränchen. Tränen der Erschöpfung, der Wut, der Angst, der Aufregung, der Rührung.

Aufregung

Nach einer unruhigen Nacht auf dem Düsseldorfer Flughafen, einer Zwischenlandung in Kopenhagen und weiteren 4 Stunden im beengten Flugzeug befinden wir uns im Landeanflug auf Grönland. Der Blick aus dem Bullauge zeigt eine Marslandschaft, völlig fremdartig, anders als alles, was ich je gesehen habe. Ich greife Olivers Hand und schlucke. So weit weg von allem Vertrauten bin ich. In Grönland. Ausgerechnet. Was hat mich da geritten? Und: Was hab ich doch für ein Glück. Ich bin aufgeregt, ungläubig, weder hier noch da. Zum Glück ist der Mensch, der mir am ehesten zu Hause ist, an meiner Seite und so fühle ich mich nicht verloren. Das Gefühl mündet in Freude, als wir im Old Camp ankommen. Nicht weil das Old Camp so schön ist, das ist es nicht! Sondern weil ich ganz von selbst mit den Hufen scharfe und lieber heute als morgen loswandern will. Doch es heißt noch einen Tag ausharren und Oliver liegt mit Migräne flach. Kopfweh mit Kopfschmerz, denn Tags zuvor hat er sich beim Sprung gegen den heimischen Türrahmen noch eine hübsche Platzgründen geholt. Also schlafen wir, wir haben es auch nötig. Einige Stunden später, die Migräne ist weg, packt uns der Hunger und wir latschen zurück zum Flughafen. Der Supermarkt ist schon zu, doch im Flughafen gibt es in der Cafeteria ein einheimisches Gericht aus Moschusochsenbeinscheiben mit Möhren, Kartoffelbrei und roter Beete. Es ist köstlich!
Am nächsten Tag machen wir uns gut gelaunt auf den noch nicht ganz so schönen Weg über die Schotterpiste nach Kellyville. Ein paar zarte Aufstiege weiter sind wir endlich auf dem offiziellen ACT. Zum ersten Mal machen wir Bekanntschaft mit dem engen, schmalen Trampelpfad und steigen hinab zu einem herrlichen See. Die Freude währt nur kurz, denn unsere künftigen Begleiter, die Mücken, sind auch schon da und fangen sogleich an uns aufzufressen. Eigentlich ist die erste Etappe an dieser Stelle erledigt, doch nach drei Stunden in brütender Zelthitze unter unablässigem Mückengesurre haben wir die Nase voll, packen zusammen und laufen weiter. Irgendwann am nächsten See kommt ein Wind auf: alle Mücken fort! Schnell die Zelte aufgestellt und gute Nacht!

Wut und Erschöpfung

Die nächsten Tage sind hart. An Seen herrscht wahrlich kein Mangel und wir hüpfen in einige hinein. Wären doch da nur nicht die Mücken... Tag 3 ist enorm anstrengend, wir laufen zwei Drittel des Amitsorsuaq ab und wollen zum Kanu Center, in dem es 14 Betten geben soll. Am See entlang geht es über Stock u.d Stein, Kletterpartien über Felsen - bin ich denn eine Bergziege?! Es ist sehr anstrengend. Die Pausen bieten wenig Erholung, denn wir haben noch nicht gelernt, dass gegen die Mücken einfach nichts zu machen ist und wir uns einfach nur mit Ihnen abfinden können. Bis auf Weiteres zehren sie also nicht nur von unserem Blut, sondern auch an unseren Nerven. Ebenfalls wenig hilfreich ist die Tatsache, dass jeder Landzunge, die wir erreichen, nur eine weitere folgt. Ich bin schon 8km vor Ende der Etappe föllig am Ende und heule dauernd vor Wut und Erschöpfung, was die Sache nicht besser macht. Den letzten Nerv raubt mir die finale Landzunge, die den Blick auf das 2km entfernte Kanu Center freigibt. Ich, eben noch wild entschlossen keinen Meter mehr zu gehen, klaube meine letzten Geisteskräfte zusammen, beiße die Zähne zusammen und kneife auch die Arschbacken zusammen und schleppe mich tatsächlich noch zum Kanu Center. Es geht auf 22 Uhr zu, damit sind wir seit 14 Stunden unterwegs. Das wolle ich nur mal gesagt haben... Oliver holt einen Eimer Wasser vom See und ich kann mich waschen - herrlich! Kurz darauf bin ich auch schon eingeschlafen. Wir nutzen das Kanu Center und ruhen uns bis nach dem Mittag ordentlich aus. Das ist auch nötig! Gegen 14 Uhr geht es weiter. Und auch diese Etappe geht nicht ohne Tränen von statten, denn am Ende steht ein steiler Anstieg an, der mich mal wieder an meine Grenzen bringt.
Oben angelangt weht uns der Wind fast wieder vom Berg und wir bauen unter erschwerten Bedingungen die Zelte auf. Ich friere - endlich, denn bislang war es nur brüllend heiß! Auf Grönland!!! - und verkrieche mich schnell in mein Zelt.

Der nächste Morgen begrüßt uns mit Regen. Oliver will aufbrechen und ich bin bockig. Zum Glück! Denn nach einer Stunde ist der Regen vorbei und wir können trockenen Füßes weiter. Es geht weit hinauf in die Berge und ich mutierte doch noch zur Bergziege. Dort oben auf dem Bergkamm überkommt mich schon ehrfürchtiges Gefühl. Ich stehe wie auf den Dächern der Welt, meine Höhenangst ist weit weg. Es ist beeindruckend, erhaben, der Blick so weit.
Der Abstieg geht mir in die Gelenke. Es geht recht steil hinab und jeder Schritt will mit Bedacht gesetzt sein. Unter uns eröffnet sich ein weites Tal und ich sage noch im Scherz zu Oliver: Und heute müssen wir noch bis zum Ende des Tals! Ich soll fast Recht behalten. Das Tal ist ein Flusstal und zum ersten Mal mache ich Bekanntschaft mit den berühmten Feuchtwiesen. Doch zunächst: die als höchstgefährlich angepriesene Überquerung des Ole's Lakseelv Flusses. Oliver, der inzwischen barfuß geht, testet schonmal an und geht vor, es geht fast hüfttief, aber unproblematisch. Also raus aus den Hosen und ab in die Fluten. Das Wasser ist überraschend warm und so legen wir gleich noch ein Bad ein und waschen Wäsche.
Nun geht es Kilometer weit über Feuchtwiesen. Ich sinke knöcheltief ein und bin ganz schön angekotzt. Irgendwann erreichen wir endlich die Bergnase - lieber gehe ich bergan als über Feuchtwiesen! - und nach einer weiteren Stunde erreichen wir unsere erste reguläre Hütte. Als ich sie sehe, denke ich noch zaghaft: hoffentlich sind wir allein, glaube aber nicht daran. Doch, oh Wunder, die Hütte ist ungemütlich und LEER! Herrlich! Ein Fest! Wir hängen Zelte und Klamotten zum Trocknen auf und schmausen königlich unsere Wurst mit Pumpernickel.
Die folgende Etappe wird bereits im Buch als schwer beschrieben und beginnt sogleich mit einem gewaltigen Anstieg, gefolgt von steilen Anstiegen, an zwei Seen entlang und zu guter Letzt durch endlose Feuchtwiesen... Oliver ist nicht gut drauf und schleppt sich heute nur mühsam dahin. Mein Vorschlag lieber die zweite Hütte zu nehmen, die besser ausgestattet sein soll, scheint ausnahmsweise mal ihn an seine Grenzen zu bringen. Doch die Mühe lohnt sich. Die Hütte ist wohl die schönste von allen und direkt an einem See gelegen. Zuerst denke ich: Huch, ist hier Ebbe? Denn der See sieht leer aus. Dann begreife ich, dass er von Eisschollen überzogen ist. Doch der wirklich unglaubliche Anblick bietet sich am nächsten Morgen. Ich schaue aus dem Fenster und denke: Wo ist der See hin? Ein zweiter Blick macht klar, er ist genau da, wo er vorher war. Er ist nur so Spiegelglatt, dass sich die Berge darin spiegeln, der Himmel, die Wolken. Es sieht unbeschreiblich aus. Atemberaubend.
Als wir löslichen, ist es wieder mal Zeit für Tränen der Angst, denn wir müssen den Abfluss des Spiegelsees durchwaten und die Wasser sind nicht nur ziemlich schnell unterwegs, sondern auch verdammt kalt - ich erinnere am das Eis auf dem See! Dieser Trail fordertir wirklich viel Mut ab. Und ich erkenne, dass man nie so konzentriert ist wie in der Angst. Wenn die Gefahr besteht die Schuhe im reißenden Fluss zu verlieren oder samt Rucksack ins kühle Nass zu plumpsen, mobilisiert der Geist wirklich alle Kräfte. Wer solle denn auch ahnen, dass dies bei weitem nicht die letzte Flussüberquerung sein sollte...
Der Rest der Etappe ist lang und langweilig und endet in einer echt hässlichen Schlucht, links und rechts hohe Berge in einem für meinen Geschmack viel zu engen Tal. Und mittendrin eine lieblose, doofe Hütte, die uns hüttenverwöhnten Wanderern gar nicht gefällt. Wir stellen fest, dass es nicht gut ist, einen Tag unbefriedigt zu beenden. Zum Glück finden wir noch irgendwas zum Lachen und auch dieser Abend ist gerettet.
Der neue Tag beginnt sogleich mit einer Bachüberquerung und anschließendem Frühstück. Dann zieht sich der Weg am Fluss entlang, den wir noch öfter zu Quere haben, was nicht ganz ohne ist. Irgendwann quere ich samt Schuhen und warte auf Oliver, der barfuö ist und dennoch ein Problem zu haben scheint. Als ich zu ihm zurückgehe - er steht keine zwei Meter vom Ufer entfernt - wirft er die 2-Liter-Trinkflasche und verfehlt das Ufer. Obwohl ich mich gleich zu Boden werfe, ist die Flasche in Null Komma Nichts auf und davon. Jawoll. Jetzt haben wir nur noch meine 0,5l Flasche... Mir graust es ein wenig, denn der nächste Tag verspricht nicht viele Seen... Wir durchstapfen noch ein paar Feuchtwiesen und erblicken schließlich den Fjord. Nach zwei weiteren Kilometern durch Feuchtwiesen sind wir an der letzten Hütte des Trails angelangt. Und die ist enorm gemütlich mit Doppelbettliegefläche. Da wir in der Hütte vorher von irgendwelchen Vorangängern zwei Büchsen Fisch abgestaubt haben, gibt es heute ein besonders leckeres Abendbrot, gekrönt von 100ml Rotwein, die wir uns teilen. Es ist ein herrlicher Abend und wir nutzen die auf diesem Weg viel zu seltene Gelegenheit zum Kuscheln und schlafen dann wunderbar durch.
Entgegen meiner Befürchtungen lässt uns auch auf der letzten Etappe das Wasser nicht im Stich. Erst geht es mit dem Bächlein fein bergab, nur um dann den krassesten Aufstieg des ganzen Wegs in Angriff zu nehmen, vor dem ich mich schon sehr fürchte. Doch irgendwie habe ich heute die Ruhe weg und schwupps ist der Anstieg auch schon vorbei und wir stehen vor der absoluten Kuriosität Des Trails: ein Klohäuschen mitten auf dem Gipfel. Sonst nix. Nagut, jede menge Müll, leider. Offensichtlich legen die Grönländer nicht so viel Wert auf Naturschutz, denn von den Wanderern stammt dieser Müll gewiss nicht. Wohl eher von Schneescooterausflügen...
Gut, noch ein Stück weiter hinauf, übrigens über nicht zu knappe Schneefällen und - wie sollte es anders sein - Feuchtwiesen und wir sind im Fjell, was wohl so viel wie Hochebene, oder Plateau heißen muss. Irgendwie verpassen wir die angekündigte Hütte des sisimiuter Schneescootervereins und rasten nahe eines eisigen Sees, in den Oliver trotz allem reinspringt. Einige Flussquerungen später sind wir am Ende des Fjells und es eröffnet sich ein atemberaubender Blick in ein märchenhaftes Tal, in das wir nun steil hinabsteigen. Zur Linken stürzt sich auch der Fluss ins Tal und ich denke an Keimzeit:

Lass es laufen den Berg hinunter
lass es laufen ins Tal
Gott hat dem Wasser seinen Weg gegeben
Sicher tut ers nicht nochmal
Bitte lass es ungestört
Das Wasser weiß selbst, wo es hingehört

Und ich denke am Mama und werde von einer Welle großer Zuneigung übermannt. Und da sind sie schließlich, die Tränen der Rührung und der Freude. Was wäre all dies wert, wenn es keinen Menschen gäbe, mit dem ich es teilen kann? So bleibt am Ende doch immer nur das Eine, die tiefe Dankbarkeit für die Liebe in meinem Leben, das erhabene Gefühl großer Nähe zu den Menschen, die ich liebe. Kein märchenhaftes Tal, kein Dach der Welt, kein kristallklaren See wiegt diese Kostbarkeit auf. Und so bleibt am Ende des Wegs nur unbändige Freude auf zu Hause.

Island

Ich sitze warm und gemütlich - und das ist keine Selbstverständlichkeit - in der riesigen Hütte in Landmannalaugar und habe endlich Muße, auf die letzten sieben Tage zurück zu blicken. Grönland und der ACT sind schon wieder so weit weg. Wie alles, was gestern war oder gerade eben. Wie flüchtig alles ist... Ich bin allein in dem Zwölfbettzimmer, das wir bisher nur mit zwei anderen teilen. Wenn ich die Dielen knacken höre, zucke ich zusammen und hoffe, doch bitte bitte noch ein bisschen länger allein sein zu dürfen. Inzwischen habe ich wieder einen akuten Mängel an Alleinsein, ich bin für Zusammenkünfte vieler Menschen einfach nicht gemacht. Aber der Reihe nach. Da waren ja noch ein paar Tage Grönland, die erinnert werden wollen.
Nach meinem sentimentalen Moment beim Abstieg ins Tal folgte auch noch eine letzte Nacht im Zelt. Wir fanden einen weiteren malerischen See und schlugen auf dem Hügel wegen des Windes unser Lager auf. Nochmal ordentlich waschen. Oliver planscht bestimmt eine halbe Stunde herum wie ein Kaulquapp. Ein letztes Offroad-Abendbrot, ein letztes Müslifrühstück und das wohl kalkulierte Essen ist bis auf ein Stück Pumpernickel verputzt. Meine beiden Favoriten: Ovomaltine und salzige Erdnüsse.
Nun also die letzten Kilometer nach Sisimiut. Noch ein Stück geht es bergauf und bald schon kommen uns die ersten Tagesausflügler und ein paar gut gelaunte Wanderer nach Kangerlussuaq entgegen. Rasch ist der Abstieg bewältigt und wir befinden uns auf der Schotterpiste in die Stadt. Mein Kopf hat an die Wanderung bereits einen Haken gemacht und erlaubt meinem rechten Fuß, zunehmend energischer weh zu tun. Doof, denn die Piste zieht sich. Statt einen heldenhaften Einzug nach Sisimiut humple ich als müde Wanderin auf den ersten Supermarkt zu und hab ganz banal nur eines im Sinn: Kartoffeln mit Fleisch!!! Nicht, dass damit zu rechnen wäre. Oliver lässt mich samt dem Gepäck an einem Tischlein sitzen und begibt sich in den Menschendschungel auf der Suche nach Essbarem. Ich bin noch ganz benommen und alles fühlt sich surreal an. Seltsam wieder Menschen zu sehen. Und Supermärkte. Und draußen diese seltsame kleine Stadt, die sich so groß vorkommt.
Doch da kommt Oliver und bringt... Kartoffeln, Fleisch und Gemüse! Es gibt wohl so etwas wie eine heiße Theke im Brugsen. Was für ein Fest!
Der Rest ist schnell erzählt. Als wir um 16 Uhr endlich ins Vandrehjem dürfen ist Wäsche waschen und duschen das Größte. Und schließlich das Abendbrot: Vollkornbrot, Frischkäse, Tomaten, Zwiebeln, Kresse. Am nächsten Tag erkunden wir die Stadt. Das ist in zwei Stunden mehr oder weniger erledigt. Es liegt erstaunlich viel Müll rum, vieles sieht abgerissen aus und über allem hängt der liebliche Duft von in Öl gekochten Eisenbahnbohlen. Gemütlich ist das Museum und wir bleiben an einem Kinofilm aus den 30er Jahren hängen, der dort gezeigt wird. Der ist so spannend und zeigt doch so viel von der Inuitkultur, dass wir beschließen die DVD zu kaufen. Schließlich finden wir auch die im gelben Buch angepriesene Konditorei und ich bekomme KAFFEE! So langsam gefällt mir Sisimiut mit seinen bunten Häuschen und dem 80er Jahre Charme. Aber es heißt schon wieder Abschied nehmen, denn am nächsten Mittag geht es weiter nach Nuuk, die Landeshauptstadt. Der gut eineinhalbstündige Marsch zum Flughafen - och, das ist nicht weit, sagt der Oliver - setzt meinem rechten Fuß wieder zu und als wir in Nuuk ankommen, geht nicht mehr viel. Oliver will zur Unterkunft wieder laufen, aber da kommt ein Bus zu meiner Rettung! Dem Himmel sei Dank, denn das Stückchen Weg (2-3 Kilometer), wäre dem Herrn Fuß wohl nicht so gut bekommen. Und so haben wir gleich eine kleine Rundfahrt durch die Außenbezirke. Dort stehen lauter sehr neu und zugegebenermaßen gut aussehende Großwohnhäuser. Doch mangels grünen Bewuchses und auch sonstiger Einfallslosigkeit in Sachen Landschaftsgestaltung besitzt Nuuk leider den Charme von Gera-Lusan... (Wer's nicht kennt: Gera-Lusan ist so ziemlich das Trostloseste, was Ostdeutschland an Plattenbahsiedlungen zu bieten hat.) Der Bus hält, wir steigen aus und ich trotte müden Fußes hinter Oliver her. Er führt uns in die hintersten Winkel einer Neubausiedlung und als der Astphalt wieder zur Schotterpiste wird, bin ich schon nah am Wutausbruch! Woher will der Kerl auch wissen, wo wir hier grad hinlatschen?! Doch oh Wunder, der Kerl hat einen phänomenalen Orientierungssinn. Die Schotterpiste führt direkt zum Inuk-Hostel. Liisi, mit der Oliver gemailt hatte, begrüßt uns herzlich und führt uns zu unserer Hütte. Mir, die ich bei Olivers Aussage "Wir wohnen dann bei einer Inuitfamilie" und beim Anblick der Wohnsilos davon ausgehe, dass wir im fragwürdigen Gästezimmer einer Familie hausen werden, fallen beim Anblick unseres Domizils doch glatt die Augen raus! Eine Hütte mit großem Wohnzimmer samt Eisbärfell und einem Schlafzimmer mit Kuschelbett. Es ist alles neu und richtig gemütlich. Damit hatte ich zugegebenermaßen nicht gerechnet! Zum Abendbrot gibt es Moschusochsenburger in Liisis Café. Lecker! Dort tagt auch gerade eine Youth-Conference, Jugendliche aus allen Teilen des Landes, die hier zu einer Art Seminar zusammengekommen sind. Irgendwann fängt einer an Gitarre zu spielen und alle, wirklich ALLE, singen Lieder. Das treibt mir die Tränen in die Augen. Alle kennen die Lieder und die Texte und alle singen mit. Diese simple Aktion strahlt für mich so eine Unschuld und Arglosigkeit aus, die ich mir in Deutschland schon gar nicht mehr vorstellen kann. Ich bin zutiefst berührt - und sehr überrascht, auch bei Oliver feuchte Augen zu entdecken. Das ganze Gegenteil erleben wir am nächsten Tag beim Besuch des Nationalmuseums. Die Ausstellung ist umfangreich und sehenswert und ich tauche ein in diese fremde Welt, bis eine Riesenhorde deutscher Wohlstandsrentner über die Stille hereinbricht. Oliver hat es schon zu Genüge kommentiert, darum von mir nur so viel: Angesichts des Kulturkonsums und der dummen Kommentare dieser Leute möchte ich mich glatt schämen der selben Nationalität anzugehören. Und ich merke zum ersten Mal: ich bin ganz schön menschensatt. Im Nuuk Center, der einzigen Shopping Mall des Landes (die in etwa dem Glockenhofcenter in Apolda entspricht), schaufeln wir einen gigantischen Teller Pastasalat für etwa 6 Euro in uns rein. Lecker. Kurios: die Portion Pommes kostet umgerechnet 10 Euro! Mehr gibt es in Nuuk auch nicht wirklich zu sehen.

Island


Am Samstag geht's nach Island in einer winzigen Maschine, die mächtig viel Krach macht und scheinbar unbeheizt ist. Jedenfalls friere ich! Na es geht ja gleich als erstes zur Blauen Lagune, juchuuu!!! Aha... die Blaue Lagune ist ganz nett, aber nach allen Erwartungen, die ich hatte, eine Enttäuschung. Wir lassen uns also einmal schön aufweichen, schmieren uns die Gesichter mit Silikat ein und dann will ich auch wieder gehen. Die 40 Piepen pro Person sind weit überteuert für ein Bad, das sich auch noch selbst beheizt. Auf nach Reykjavík! Also als erstes freue ich mich nach der Augenleere Grönlands über BÄUME! Und auch über die vertrauten Zeichen der Zivilisation wie Subway ;-) Als wir im KEX Hostel ankommen packt mich ja schon wieder die Skepsis: Es ist laut wie in einer Bar. Achso: da ist ja auch schon die Bar, die Lounge vom KEX, die gerade (nach 22 Uhr) gut gefüllt ist. Meine Güte, wie cool dieser Platz ist. Alles ist irgendwie retro, zusammengewürfelt, einfach kultig. Nach dem ersten Lermschock bin ich begeistert! Wir ticken noch nach Grönlandzeit und hängen 2 Stunden nach, also latschen wir noch eine Runde durch die Stadt. Und was für eine Stadt! Die strotzt vor Kreativität! Die Klamottenläden will ich alle ausräumen. Ein Friseur ist total auf 50er Jahre getrimmt. Hier ist einfach nichts beliebig, alles ist eigen, alles hat Persönlichkeit. So eine Stadt habe ich noch nie gesehen. Ich bin verliebt.
Kein Vergnügen ist jedoch die Nacht im 16-Bett-Zimmer, das wir uns mit lauter amerikanisch quatschenden Zwanzigjährigen teilen. Die Tür knallt besonders laut und die Betten quietschen und so erwachen wir am nächsten Morgen ziemlich gerädert. Ich bin menschensatt. Dafür gibt es eine schönes, wenn auch teures, Frühstücksbuffet.
Der Tag gehört einem Stadtbummel, der Entdeckung eines Friedhofs mit vielen alten Gräbern und dem Suppen- und Salatbuffet am Abend. Die Nacht ist einmal mehr von wenig Schlaf geprägt, aber wir müssen eh früh raus. Um 8 geht der Bus nach Landmannalaugar.
Die Fahrt ist lang, der Bus überfüllt und ich bin müde. Irgendwann biegen wir in die Highlands ein und der Bus fährt eine gewagte Offroadpiste entlang. Die Landschaft ist fast nur grau. Es regnet. Berge erheben sich, ein goldenes Grün krabbelt an ihnen auch und bildet ein Farbenspiel, das mich mitten ins Herz trifft. Der Blick kuschelt sich an die Hänge wie ein Kind an Mamas Schoß. Ich kann mich garnicht satt sehen. Alles sieht so warm und weich aus wie eine Wolldecke, in die man sich gleich einwickeln möchte. Am liebsten würde ich die Landschaft anziehen.
Irgendwann sind wir da und das Wetter ist beschissen. Nieselregen, recht kühl, ungemütlich. Ich hab überhaupt keine Lust auf die Tageswanderung, die Oliver geplant hat. Ebenfalls geplant ist eine Übernachtung im Zelt. Ich will nach Hause! Widerwillig latsche ich ein Stück und beschließe dann abzubrechen. Kann mich ja in diesen Container hocken, in dem wir unsere Rucksäcke lagern. Es ist kalt und wird allmählich ARSCHKALT. Es gibt eine Hütte und ich fasse den Entschluss, wenn möglich dort zwei Betten zu ergattern, koste es was es wolle. Der Regen hat sogar noch zugenommen und die Aussicht auf eine Nacht im Zelt verdirbt mir enorm die Laune. Ich habe Glück! In der Hütte ist noch platz! Kurzerhand schreibe ich Oliver, der die Tagestour tatsächlich in Angriff genommen hat, eine Notiz und ziehe in die warme Hütte ein. Juchu! Es dauert auch nicht lange, da bin ich eingeschlafen.
Irgendwann zupft ein völlig steif gefrorener Oliver an meinem Zeh und strahlt mich an. Offensichtlich freut ihn meine eigenmächtig getroffene Entscheidung. Ich schälen mich aus meinem Schlafsack und gemeinsam gehen wir zum Hot Pot. Wieder mal fehlen mir die Worte. Es nieselt und wir sitzen in einem flachen Becken mitten in der Wieso, links und rechts plätschert in kleinen Wasserfällen heißes Wasser herunter und wir köcheln bei zwischen 30 und 45 Grad vor uns hin. Um uns steigen Nebel auf, im Hintergrund Lavagestein. Ich rechne jeden Augenblick damit, dass eine Elfe angeflattert kommt oder ein Wichtel aus dem Gras schaut. Wir sitzen mitten in einem Märchen und ich bin schon wieder den Tränen nahe.
Am nächsten Tag soll es eine zwölf Kilometer lange Etappe an heißen Quellen entlang den Berg hinauf gehen, dann eine Nacht in der obigen Hütte und wieder runter. Diese knapp viereinhalb Stunden entpuppen sich als die reinste Polarexpedition, denn das Wetter ist bescheiden und wird immer bescheidener. Womit wir nicht gerechnet hatten war, dass wir bei eisigem Wind kilometerweit durch Schneefelder eiern müssen. Schon nach vier Kilometern bin ich an meinem Tiefpunkt und häule wie ein Kind. Es ist arschkalt, es läuft sich wie auf heißem Sand und je weiter wir kommen desto schlechter wird die Sicht. Irgendwann ist alles nur noch weiß, Schnee und Nebel. Ich rutsche dauernd aus und brülle ein paar mal vor Wut.
Schließlich erreichen wir doch noch die Hütte. Der Weg war gar nicht so lang und auch nicht mal so wahnsinnig anstrengend. Nur extrem frustrierend... und ich bin so durchgefroren. Blaue Lippen, ungelogen. Wie Oliver das ausgehalten hat in kurzen Hemden, kurzer Hose und barfuß in Sandalen, ist mir ein Rätsel. Es dauert gute drei Stunden im Schlafsack, bis ich wieder warm bin.
Übrigens rieche ich auch wie eine Kloake, wenn auch nicht so schlimm wie die Klos hier unten. Naja, die Wäsche muss bis morgen warten.
Die Nacht mit 16 anderen ist wie immer bescheiden und gegen Morgen habe ich üble Mordphantasien gegen den Ekelschnarcher vom Dienst. Ab sieben dann allgemeine Aufbruchstimmung, Frühstücken, Rucksack wühlen... wir warten bis alle weg sind und finden im Schrank einen Rest Müsli und Marmelade für unser Frühstück. Sogar einen löslichen Kaffee finde ich noch!
Dann heißt es auch für uns Aufbrechen. Ich freue mich garnicht, denn mir graust vor den langen Schneefeldern und dem einen oder anderen steilen Abstieg durch den Schnee. Doch das Wetter ist eine positive Überraschung: die Sonne kommt raus, die Sicht wird klar und atemberaubend, und die Abstiege werden zu lustigen Hackenläufer-schlitterpartien. Jetzt wird mir auch klar weshalb Oliver diese Etappe gehen wollte. Es ist wunderschön und wir machen an den heißen Quellen ausgiebige Fotosessions. Und da sind wir nun. Warm und trocken zurück in der Hütte in Landmannalaugar. Wir haben ein paar Suppen gefunden, die Sonne scheint, bald geht es heim. Ich bin glücklich.
Oliver sucht noch den unvermeidlichen Geocache, was mir die Zeit gibt mein Tagebuch auf den neuesten Stand zu bringen und das Alleinsein zu genießen. Es ist tatsächlich niemand mehr gekommen, die Chancen auf eine Nacht zu viert stehen also gut. Juchu! Morgen geht es zurück nach Reykjavík. Wir wollen ja noch ins Phallusmuseum und Oliver will in die Plattenläden. Und nochmal zum Suppenbuffet!
Und am Samstag kommt das Allerbeste: nach Hause zur Minuschka, Mama anrufen, Wäsche waschen, duschen, Pizza und Downton Abbey! Angefüllt mit so vielen Eindrücken, die erst noch verdaut werden wollen, freue ich mich schon sehr auf Daheim.

16. Juli

Zu früh gefreut auf eine Nacht zu viert. Am Ende waren alle Betten belegt und es wurde ganz schön eng. Erstaunlicherweise war es die ruhigste und angenehmste Nacht bisher in Island.
Jetzt sitzen wir draußen in der Sonne und warten auf unseren Bus nach Reykjavík. Okay, jetzt sitz ich allein da, denn Oliver will schon wieder tümpeln und geocachen. Muss ich mir wohl noch einen Kaffee holen und Bartimäus bemühen. Bloß gut, dass ich genug Bücher auf dem Kindle hab. Bloß gut, dass ich einen Kindle hab! Ich lese gerade Buch Nummer 4.
Eine traurige Bilanz dieser Reise bilden leider meine Wanderschuhe. Das gute Leder ist für die vielen Begegnungen mit Feuchtwiesen einfach nicht gemacht und die isländischen Schneefelder haben Ihnen wohl den Rest gegeben... jedenfalls bieten sie einen traurigen Anblick. Nähte sind auch kaputt. Ich hoffe, eine ordentliche Wäsche, Wachs und ein guter Schuster können sie noch retten. Wäre zu schade sie zu entsorgen.

17. Juli


20 Uhr am letzten Abend. Wider Erwarten war auch die letzte Nacht im KEX angenehm und ruhig. Zuvor gab's noch einmal Suppenbuffet, was mein Bauch einfach nicht verdauen wollte... danach noch Blubbern im Sundhöllbad, das Oliver so mag. Ja nett. Seine Begeisterung teile ich aber nicht :-) Er ist gerade nochmal dort, ich dagegen hab schon den Rucksack gepackt, denn halb 4 heißt es aufstehen und loslatschen, halb 5 fährt der Bus zum Flughafen. Minuschka, wir kommen!!!
Heute haben wir noch einen herrlichen letzten Tag verbracht. Die Sonne hat gelacht und wir sind gemütlich durch die Stadt gebummelt. Nur das Phallusmuseum war ein Reinfall... Ich dachte, es ginge mehr um den künstlerischen Aspekt, stattdessen waren die Pimmel von allerlei Getier ausgestellt, beleuchtet von Sacklederlampen... Mein Magen bekundete nachdrücklich, dass er Pimmel in Formalin wirklich garnicht toll findet und war drauf und dran, das zuvor verspeiste köstliche Frühstück wieder nach oben zu schicken. Allen Ernstes! Ich hatte mich auch für abgebrühter gehalten... Jedenfalls habe ich mich keine zehn Minuten im Phalologic Museum aufgehalten.
Viel schöner war es dann doch im Plattenladen 12 Tónar. Dort haben wir mehrere Stunden verbracht und sind auch reich beladen wieder herausspaziert. Der Klamottenladen Geysir war dagegen eher ernüchternd und hielt nicht, was die gut gemachte Werbung auf dem Flughafen versprach. Trotzdem finde ich Reykjavík klasse. Fällt mir nicht schwer mich hier wohlzufühlen. Habe auch nochmal ausgiebig das KEX fotografiert. Hier jagt wirklich ein Motiv das andere.
Jetzt dürfte bald Oliver aus dem Schwimmbad eintreffen, also schließe ich dieses Urlaubsabenteuertagebuch und sage Gute Nacht und Juchu Minuschka!