Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

30.10.2022 Nachweh

  

Vor etwas mehr als 4 Monaten bin ich aus Århus zurückgekommen. Eigentlich von einer Reise, die als solches keinen klar definierbaren Anfang oder ein Ende hatte. Was ist Teneriffa denn bei all dem, was sonst noch passiert rings herum? Eigentlich eine Schlüsselrolle als Gipfel des egoistischen Auslebens meiner selbst. Seit Leander geboren ist, sind die Rundwege um die kanarischen Inseln die selbstverordnete Auszeit, rein ins Ich. Statt einer Urlaubserinnerung überwiegt diesmal das Gefühl, einen kleinen, wenn auch schmerzhaften Verlust überwunden zu haben. Der Höllenschmerz mitten auf der Reise entpuppte sich als absterbender Backenzahn. Mein Erster. Und ich war ratlos. Mir ist noch nie einfach so etwas abgestorben. Alle um mich herum haben mit den Schultern gezuckt, "ist doch nur ein Zahn. Zieh den raus, dann haste Ruhe!" Genauso gut hätte man mir raten können, meinen kleinen Finger abzuschneiden. Es fühlte sich ein bisschen an wie der Anfang vom Ende: ein Teil von mir stirbt und ich hätte nichts dagegen tun können, um es aufzuhalten.
Aber naja, das klingt gerade sehr pathetisch. Dachte ich mir damals auch. Also unterzog ich mich einer Wurzelbehandlung mit ungewissem Ausgang. Alles redete weiter auf mich ein, als würde ich Götzenbilder anbeten: "Zieh' ihn raus! Zieh' ihn raus!"
4 Monate und einige Unregelmäßigkeiten später ist der Kompositdeckel drauf gekommen, nachdem alle Kanäle fein säuberlich aufgebohrt wurden. Ohne Spritze. Die brauchte man nicht mehr. Der Zahn war tot. Ich hab das Glücksklee gefunden: gleich vier Kanäle hat die Zahnleiche, die ich fortan mein natürliches Implantat nenne. Mein Körper hat beschlossen, es als Fremdkörper zu begreifen, wenn ich mit der Zunge daran entlang gleite. Seit ein paar Tagen ist er still. Von außen sieht es aus, als wäre nichts passiert, dabei ist die Oberseite nichts mehr weiter als das zahnschmelzfarbene Keramik-Kunststoff-Gemisch, das mit UV-Lampen erhärtet werden muss. Doch wie bringt mich das Erlebnis zum heutigen Lampion, mit dem ich nachträglich den Teneriffabaum schmücke? Erstmal trivial. Beim Aurorakonzert habe ich im Eingangsbereich ein Sigur Rós Plakat gesehen und meiner Schwester geschickt. Sie hat sich sehr geärgert nicht bei Aurora dabei gewesen sein zu können, da müssten wir nach 10 Jahren doch wenigstens nochmal zu den isländischen Avangardisten. Also dann, lass uns testen, ob Jónsi es schafft mir mit E-Gitarre und kreischendem Bogenstreicher die Plombe aus dem Gebiss zu bröseln. Und tatsächlich fühlt sich das damit verbundene Wochenende ohne Familie an wie ein wohlverdientes Ankommen-Nachspiel zum diesjährigen Weg.
Ohnehin verändert sich meine Wahrnehmung zu den GR-Wegen von Mal zu Mal. Die Zeit dazwischen gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Es ist nicht nur der Weg selbst. Es ist auch die Planung vorher, das Nachlesen und wieder das Planen der Wegstrecken über die dunklen Monate hinweg. Ich sitze dann in meiner Infrarotkabine und stecke Wegstrecken auf Karten, bastel ein Abenteuer. Kindische Vorfreude zelebrieren. Auf diesem Konzert stellt sich in mir schnell ein Das-fehlt-noch-Gefühl ein. Das Lämpchen muss einfach mit an den Teneriffabaum, wenn auch nur ganz unten nahe der Steckdose.
2012 waren wir ebenfalls bei Sigur Rós im Tempodrom. Seit dem hat sich musikalisch nicht viel getan. Gassenhauer werden gespielt, wenn man sie angesichts der Fantasiesprachgesänge auf domestiziertem Krach so nennen kann. Die meisten sind in meinem Alter, zwischen 40 und 50. Damals 1999, als ich die Band entdeckt hab, war ich 19. Die Leute hier auch. Und jetzt werden die Lieder... oder besser Klangteppiche... auch Klassiker?! Wie hört man sowas in 30 Jahren im Altersheim? Geht das überhaupt, alt werden mit dieser Art von Musik?
Ich versuche jung zu bleiben und betrete angesicht der 22 Grad draußen die Halle, wie ich den Weg gehe, barfuß. Ein inkorrektes Bild gebe ich ab zwischen vielen Menschen in Winterklamotten. Schließlich ist morgen Zeitumstellung, da geht man nicht mehr sommerlich vor die Tür und mag die Klimaerwärmung uns noch so heiße Novembersommer unter absterbenden Fichten bescheren.
Das Konzert wurde zu einem reinen Sitzkonzert umfunktioniert, was einige Verwirrungen bei der Platzwahl zur Folge hatte sowie Enttäuschung. Wollte man doch gepflegt zum Krach mittanzen. Einer tat es, mitten im Saal, ungeachtet der Rausschmissversuche des Securitypersonals, das mit ihrer Benimm-Aktion von wegen "das hier sind freizuhaltende Fluchtwege" nur zu Nachahmern führte. Todesmutig krallte sich der Tanzende an Stuhlbeinen fest wie grüne Anti-Atom-Demonstranten sich an Eisenbahnschienen ketten und hat schließlich Erfolg zu lasten aller, die nurmehr das Gehabe im Mittelgang anstelle des Konzerts verfolgten. War es das wert? Nein, das war einfach nur eine dämliche, aufgeblasene Aktion, die Sache nicht im Ansatz wert. Niemand zahlt dafür, tanzwütige Extremisten zu bestaunen. Aber stimmungsvoll ist es allemal seitlich auf dem Video, wo es die auf Stühle verbannte Tanzwut von 3000 Halleninsassen erahnen lässt.
Die Band spielte unbeirrt und episch kreischend weiter, bis schließlich das Licht angeht und die vier Musiker dort stehen, normal, nahbar und irgendwie wie ein paar Studenten-WG-Freunde in zu großen Hemden, die nicht wissen, dass man als Künstler nicht dem zahlenden Publikum zuklatscht sondern anders herum. Süß wirkt Frontmann Jónsi, wie ein unbeholfenes Bärchen auf der Suche nach Honig, während er sich auf isländisch für seine angeschlagene Stimme entschuldigt. Ich vermute es jedenfalls. Ich kann kein Isländisch. Und wer sonst im Laden weiß ich auch nicht, aber es passt zur sphärisch quietschenden Musik aus anderen Welten, sich hierbei nicht dem Publikum anzupassen, sondern vorauszusetzen, dass eine isländische Ansprache ausreichend ist.