09.06.2024 Abgang | ᐸ ᐳ ᐱ |

Ich selbst habe geschwollene Füße. Warum, weiß ich nicht genau. Ich habe sie keiner besonderen Belastung ausgesetzt. Aber beim Joggen fühlen sie sich an, als hätte man Gelee eingespritzt. Sie spannen und wackeln wie Pudding vor sich hin. Zum Glück hilft das Baden und beim Frühstück normalisiert es sich wieder. Frau Duffner, die Besitzerin unserer Anlage, gesellt sich zu uns beim Frühstück. Wir kommen ins Gespräch. Sie und ihr Mann sind Alleskönner-Aussteiger seit 1986 und leiten dieses Hotel und ein FKK-Resort auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ihnen gehören beide Hotelkomplexe. Sie leben ein Leben für diese Sache. Ihr vielen meine Wandersohlen auf, die ich auch beim Frühstück anhabe: "Dachte erst, Sie gehen barfuß. Das wäre nicht gut, wegen der Versicherung. Aber die Sohlen sind echt cool. Die sieht man gar nicht und Sie haben trotzdem welche an." Wir kommen darüber ins Gespräch über die Umstände der letzten Jahre, über Corona-Schwierigkeiten und Pleiten wie denen von Thomas Cook oder FTI, über fehlende Dienstwohnungen, Massentourismus und dumme Behördenentscheidungen. Der GR 131 beispielsweise führt direkt durch ihr Grundstück hindurch, ohne dass sie die Zustimmung gegeben hätte. War eine politische Entscheidung, fertig. Aber es ist wie mit der Infrastruktur auch: man hat große Pläne, baut auf und hält niemals instand. Dafür ist dann kein Geld mehr vorgesehen. Das konnte ich auch während der vielen Wanderungen auf den neun Inseln deutlich erkennen. Wir wollen es erstmal ruhig angehen und den Vormittag in Morro Jable an der Strandpromenade verbringen. Es ist hässlich wie eh und je dort. Wir parken das Auto gegenüber der alten Stella Cannaris Ruine, einem Hotel-Zoo-Komplex mit Papageien, der 2013 geschlossen wurde und der Witterung zum Opfer viel. Lost Place inmitten der Touristen. Als Kind waren wir häufig darin herumspatziert wegen der Vögel. Jetzt ist es eines von vielen Komplexen, die binnen der letzten zehn Jahre aufgegeben wurden aus Gründen, die den Tourismus zum Demonstrationsthema machen: Corona, Steuerhinterziehung, Pleiten, Schwarzunterkünfte, fehlende Wohnungen für Mitarbeitende. Es ist teuer geworden. Auch die Shoppingmeilen entlang der Küste pleiten vor sich hin. Noch schillert die Frontfassade. Aber der Putz bröckelt. Wurden in den 90ern noch Tonnen an Zigaretten und Elektronik durch Marokkaner vertickt, sind es jetzt Gebamsel, Plagiate und Holzpenisse mit Fuerteventura-Aufschrift als Souvenir. In den Shoppingetagen dahinter, die teils nahtlos in die darüber liegenden Hotels übergehen, steht alles leer und verfällt. Obsolete Infrastruktur wie überall und kein Nachfolgekonzept. Es ist vergleichbar mit der Karstadt-Kaufhof-Krise. Was tun, wenn man das alles so einfach nicht mehr braucht?! Wir laufen bis zum Ende der Promenade, essen ein großes Eis und trinken Barraquito in einer deutsch geführten Eisdiele. Ach ja, die guten alten Zeiten gehen irgendwie zuende. Früher war alles besser. Auch der Tourismus... oder so? Ich weiß nicht. Aber ich glaube, der Ort kann in den nächsten Zehn Jahren durchaus seine ganze Bedeutung einbüßen. Der Putz bröckelt in bedenklich großen Stücken von den Wänden ab.


Die Westküste ist ruhig und wir finden sofort die Hotspots der Kindheit. Es leuchtet ein schönes, intensives Abendlicht und wir machen unsere Fotosessions: Wir stellen alte Bilder nach, ich rufe den Sonnengott, wir laufen den endlos wirkenden GR 131 mit endlos wirkendem Sehnsuchtsblick entlang, der mittem im Wüstennichts unseren Weg kreuzt. Alles wirkt ein bisschen wie der Schlussakkord. Noch ein paar letzte Abschlussbilder, die die Freiheit des Wegs und deren Eindrücke und Gedanken feiern. Ich selbst habe immer mal wieder versucht, diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen, mit denen man sich im öffentlichen Raum vielleicht schwer tut, obwohl man darüber sprechen wöllte, wenn es eine neutrale Zone dafür gäbe und es nicht gleich peinlich wäre oder man verurteilt wird. Aber für mich hießen die letzten sechs Jahre auch Dinge mit mir auszuprobieren und zu schauen, was in mir vorgeht: Beobachtungen, Kritik, Kleidung, Nacktheit, Reduktion, Mangel, Geschlecht, Blickwinkel, Egozentrik. Das alles ist nicht überlebenswichtig und oft trivial. Aber mich macht es einsam im Kopf, wenn ich es nicht auch mal zum Ausdruck bringe und es in meinem Kopf endlos Kreise dreht. Muss man das alles machen und sagen? Wie gesagt, nein. Nur geht danach alles für mich leichter im Leben. Ich sehe mich nicht als Missionar für irgendeine alternative Lebensphilosophie. Es ist auch keine Flucht. Es ist nur verbalisierter Urlaub, in der die Zeit zur Ergründung bleibt.
Abends beschließen wir vier in der Altstadt von Morro Jable "ehrlich" essen zu gehen und finden das Fischrestaurant "La Farola del Mar" direkt an der Küste zwischen den Häuserschluchten, wieder einmal direkt am GR 131. Es gibt kanarischen Fischeintopf für mich. Und natürlich schauen meine Eltern skeptisch über den Tellerrand. Neeee, dann doch lieber Steak und Salat. Jedem das seine. Ein Nachtspaziergang zum Hafenanleger, während ich das Auto dorthin nachhole und tanken fahre. Dann bricht nach sechs Jahren die endgültig letzte Nacht auf den Kanaren für mich an.