07.06.2024 Orientierung | ᐸ ᐳ ᐱ |
Unsere Tempi sind auch heute sehr unterschiedlich. Ich wäre halb so schnell, wenn meine Schwester ihr Tempo durchziehen würde. Ist nicht tragisch. Denn ich laufe ein stetiges Tempo, sagt sie. Und so erreichen wir nach etwa 2 Stunden das 389 Meter hohe Joch und blicken einmal mehr auf das 180-Grad-Panorama der Westküste mit der Villa Winter unter uns. Mythen umranken das alte Anwesen und wir beide sind fasziniert von dem Gebäude seit wir 1995 hier waren aber nie hinfuhren. Wieder so eine Kindheitserinnerung. Also machen wir jetzt natürlich einen Abstecher dorthin. Das Anwesen ist gar nicht so verlassen, wie die umgebende Landschaft es vermuten ließe. Ein Privatmuseum wurde hier durch den Besitzer eröffnet, das man gegen Spende betreten darf. Glücklicher Zufall, das machen wir! ... und natürlich habe ich mir dafür wieder was übergezogen. Wenn auch nicht gerade die maskulinste Klamotte. Ich probiere hier in der "Neutralen Zone" der Insel mal was aus und schaue, ob es mir gefällt und wie das Umfeld so reagiert. Ich trage ein Kleid, für Männer tatsächlich. Ich finde es schwer, sowas zu Hause zu tragen. Es ist bunt und hat Fransen, aber bleibt hier auf der Insel weitgehend unbeachtet. Ich stelle immer wieder fest, dass ich mir selbst vielmehr die Platte mache als mein Umfeld. Es juckt keinen. Da gibts deutlich auffälligere Kuriositäten, im Positiven wie im Negativen. Ich freue mich, wenn ich Gleichgültigkeit, also gleiche Gültigkeit, erfahre. Es reicht mir eigentlich, mir selbst zu gefallen. Für meine Mutter ist das Karneval. Naja. Damit fing es im Kindesalter als erste neutrale Zone ja auch durchaus mal an. Das alles geht ja in unserer heutigen Gesellschaft besser als noch vor ein paar Jahren. Vieles wird langsam selbstverständlicher und zumindest ich habe schon lange das Gefühl, mich damit auseinander setzen zu wollen, ohne sofort beurteilt zu werden. Ich lerne dabei, dass es eine ganze Schar an Flaggen für alle möglichen Varianten von Geschlechterverständnissen gibt, die erst binnen des letzten Jahrzehnts offen in Erscheinung treten, während die Regenbogenflagge in ihrem Ursprung schon seit 1978 existiert. Aber wo fühle ich mich zugehörig? Ich habe mein Geschlecht bis vor Kurzem nie in Frage gestellt. Ich finde es auch bis heute sehr befremdlich das zu tun, weil ich eigentlich keine dringende Notwendigkeit verspüre. Ich mag meinen Körper, so wie er ist. Aber es gibt mein ganzes Leben immer wieder mal Gedanken, Überlegungen, Vorstellungen und Tagträumereien zwischen den Geschlechtern. Warum das so ist, ergründe ich seit einiger Zeit und bin den Ursachen gut auf der Spur. Aber was bin ich dann? Langweiliger Hetero? Eigentlich ja. Tragen Heteros Kleider oder Röcke? Am ehesten würde ich sagen, ich versuche die Hetero-Orientierung für mich persönlich zu liberalisieren. Als Junge wollte ich immer Kleider anziehen und lange Haare tragen dürfen, hab mich aber nicht getraut, das überhaupt anzusprechen. Ich wollte deshalb aber auch kein Mädchen sein. Es gab eine Zeit, in der Frauen partout keine Hosen tragen durften. Sind sie geschlechtlich anders orientiert, seit sie es dürfen?
Ich tratsche mit meiner Schwester darüber, während wir weiter zur Küste ziehen. Das Thema hat keine hohe Priorität für mich, dafür genüge ich mir so, wie ich im Alltag bin. Hier beim Wandern hab ich abseits von Verpflichtungen und Familie aber auch mal Zeit für sowas und der Weg ist laaaaang, puuuuh! Von oben sah alles so nah aus. Ein Trugschluss. Die Landschaft ist sehr weit und verzerrt die Wahrnehmung der Distanzen. Irgendwann erreichen wir die nahezu menschenleere Küste von Cofete. Nur ein paar Pärchen zieht es hierher mit Mietwagen oder dem Offroad-Bus, der zeeimal am Tag hierher fährt. Mann kann hier ungestört nackt herumliegen und baden, muss aber den langen Pistenweg aufsich nehmen. Mich zieht es auch ins türkisfarbene Wasser, bevor wir schließlich auch wieder den Rückweg einschlagen müssen, um zum Essen mit den Eltern wieder zurück sein zu können. Oben am Hang kommt uns dann sogar ein seltener Wandertypus entgegen, der mich nicht mehr zum kuriosen Unikum macht: ein Nacktwanderer folgt dem Weg hinauf zum Joch. Er ist schätzungsweise in den 60ern. Ich freue mich. Er sich sichtlich auch. Was an den Stränden, auch vor unserer Anlage in Esquinzo schon völlig normal ist, ist es in einer solchen Umgebung nicht. Wanderschuhe und Strümpfe hat er aber an und meint, dass ich ja ein "Purist" wär. "Ach sogar barfuß...", nuschelt er mir grinsend beim Vorbeigehen zu und ich fühle mich zugeordnet. Vielleicht macht man das ja so unter Nacktwanderern, weil wir so selten sind. Erkennen, sich freuen, mustern, kategorisieren, weitergehen. Innerlich muss ich lachen in Anbetracht der Genderdiskussion auf dem Hinweg. Wir brauchen wohl auch Flaggen zur Unterscheidung der Nacktwandertypen, die wir am besten voller Pride auf unseren Köpfen tragen. Die Heteroflagge ist übrigens schwarzweiß gestreift. Nicht so schön bunt wie alle anderen. Eher wie Häftlingskleidung.