Todos los colores brillan alrededor del
Camino de Los Alto

17.06.2022 I've seen it all

  

Ich komme mit dem Flieger in BER an und bin wieder Teil des Gewohnten, außer der 9-Euro-Freiheit. Gerade jetzt in Berlin wird das Ticket goldwert sein. Für die Nacht hab ich nur ein Hostel am Hauptbahnhof gebucht. Die paar Stunden, dachte ich. Mir war erst klar, dass mir Privatsphäre immer wichtiger geworden bin, als ich das Zimmer des a&o-Hostels betrete und von sieben etwa 18-20 Jahre jungen Männern umgeben bin.
Die Erkenntnis kommt schlagartig, dass ich das so nicht will und ich verkrieche mich widerwillig in meine Schlafkoje. Irgendwann lichtet sich der Schleier des Unwohlseins und ich merke, dass ich das nur so und hier nicht will. Jakobsweg, Island, Grönland… da hatte das einen Sinn, hier ist es nur günstig.
Die Nacht geht rum, ich schlafe gut und bin sofort raus. Ich will Frühstück, bevor ich um 15 Uhr Frances endlich wiedertreffe. Für uns beide werden die nächten zwei Tage außergewöhnliche Bedeutung haben, denn es kommt seit Leander nicht oft vor, dass wir Mal eine Paarzeit haben für etwas wie ein ebenfalls durch COVID ewig aufgeschobenes Konzert von Björk in der Waldbühne. Unser nächtliches Ziel ist das nahe gelegene Seehotel im Grunewald.
Ich beschließe, einfach in der morgentlichen Sonne in Richtung Fernsehturm zu laufen. 16 Jahre war ich schon nicht mehr in der Innenstadt von Berlin und ich bin überrrascht wie beruhigt sie auf dem Weg zum Alexanderplatz geworden ist. Man gleitet ja schon am Hauptbahnhof quasi ein in die Parklandschaft vor dem Regierungsbezirk. Viele Schulklassen sind unterwegs um das Deutsche Standardpaket an Geschichte zu erfahren, auch schon im Hostel. Ein Plattenladen fällt mir weiter auf dem Weg ins Auge. Er benennt sich als Kultur-Kaufhaus. Schon erstaunlich. Vinyl ist mittlerweile vom abgeranzten Hochregallager, das um jeden Cent Marge kämpft wieder mitten in die Bevölkerung gelangt als top aktuelle Art des Musikkonsums. Künstler bringen ihre Musik gerade auf Seiten wie Bandcamp eher als Platte denn als CD heraus. Wer will schon CD, wenn’s die große alte Schwester gibt. Dabei geht es gar nicht so sehr darum sie abzuspielen, weil es das Medium zwingend braucht wie bis in die 80er. Die Notwendigkeit ist obsolet. Es geht eher darum, einen physikalischen Anteil eines Künstlers zu besitzen. Der Preis ist dann schon fast Nebensache. Die Dinger sind immer teuer.
Am Alex im Alex kehre ein. Hmmm… na und wenn ich schon beim Fernsehturm sitze, dann will ich auch hoch, also besorge ich mir ein Online-Ticket ohne Wartezeit. 3 Euro mehr, um sich VIP zu fühlen, das ist ein Deal. Ich liebe Türme.
Zumindest hier im Innenstadtbereich wirkt Berlin jung und aufgeräumt. Ich Frage mich, ob das nur Fassade fürs Publikum ist oder sich in der Zeit wirklich etwas verändert hat. Überall prangen riesige Toleranzbotschaften, an Baustellen, im Bahnhof. Überall Regenbögen. Vor dem berliner Rathaus vier Flaggen wie selbstverständlich zugehörige nebeneinander: Berlin, Deutschland, Europa, Ukraine. We all #standwithukraine. Mir fällt auf, dass ich den täglichen Schreckensbericht aus dem Donbass tatsächlich auf dem Weg verdrängt habe. Da war ja noch was. Ich glaube, die Botschaft, die über die blau-gelben Flaggen ausgesendet wird, dass da noch etwas sehr Unfriedliches ist, ist wichtiger, als jetzt im Geiste Ukrainer zu werden. Friedenswille und blau-gelb passen zur Zeit einfach nur gut zusammen.

Bis Pichelsberg fahre ich gegen halb 2 mit der S-Bahn vom Alex und laufe durch den Grunewald zum Hotel, wo Frances schon wartet. Ist fast wie eine kleine, weitere Wanderetappe. Es ist war, ich laufe Barfuß über sandigen Boden, die Havel blitzt durch die Bäume, es ist still. Schöner Teil Berlins.
Zum Glück ist das Backenproblem vorher in Ordnung gekommen. Ich spüre nur mehr so etwas wie eine Brandwunde. Tut gut, wieder jemanden zu sehen nach der letzten Woche.
Wir checken ein, ich beschwimme die Havel und dann geht es auch schon los, was essen, in die Waldbühne. Ich wollte sie immer schon sehen. Für Björk mit Orchester erst recht. Das Amphitheater ist voll. Die Menschen sind extrem Bunt, im Alter wie im Aussehen. Viele verwirklichen sich an sich selbst so exzentrisch wie Björk in ihren Bühnenoutfits. Wir finden es toll. Frances meint, Bunte Menschen sind die Interessanteren. Und sie hat Recht. Der vordringlichste Impuls bei vielen, selbst mir, ist das Außergewöhnliche nicht als passend oder richtig zu deklarieren. Mir scheint, das tun wir mehr zum Selbstschutz, als dass es tatsächlich nicht richtig ist, Selbstverwirklichung zum Ausdruck zu bringen. Dabei brauchen wir eigentlich Menschen jenseits der Mitte, damit wir sie uns anschauen können, wenn sie eigene Welt mal wieder erdrückend farblos ist. „Sie haben aber eine tolle Farbe bekommen“, stellte ein älterer Mann am pichelsberger S-Bahnhof losgegangen bin. Man wird gleich ansprechbarer mit Farbe.
Das Orchester tritt auf, dann schwebt Björk als riesiger Wattebausch hinein. Auch sie ist exzentrisch, auch wenn sie mittlerweile 56 ist. 10 Jahre ist es her, dass ich mit ihr auf Island per Zufall mal gemeinsam In einem Hot Pot gesessen habe. Das hier ist das Produkt Björk. Das Konzert beginnt. Einst experimentelle Musik rein für Orchester. Es wirkt grandios. Das Publikum schwelgt in Nostalgie und Björk bedient sie. Es werden zum Großteil die Klassiker der 90er Jahre inszeniert, die alle freudig erwarten. Ich muss sagen, ich bin froh darum. Das war die Zeit, in der sie mich begeistert hat, eine Zeit, in der alleine der Gedanke daran, jemand könne als Isländerin kulturelle Bedeutung in der Welt erlangen, schon exzentrisch war. Das hat sich 30 Jahre später gänzlich gewandelt. Viele sind ihr gefolgt und Björk ist in meinen Augen so etwas wie eine phantastische Punk-Mama für die nachfolgenden Generationen geworden und wird als solche geliebt, auch wenn sie musikalisch eigentlich schon einen Schritt weiter sind. Sie selbst ist unter ihrem voluminösen Kleid kaum zu erkennen. Soll man sie überhaupt erkennen oder soll man nur das Kunstwerk begreifen. Schlussendlich kommentiert aber auch sie die Außergewöhnlichkeit der Umstände und nimmt damit für einen kurzen Moment Kontakt mit dem Publikum auf, der in Anbetracht der Reaktionen sehnlichst erhofft wurde. Ansonsten habe ich oft das Gefühl, dass sie ihren privaten Kern und bewusst in dick mit ihrem Kunstprodukt ummantelt, um ihn gegen Eindringlinge abzukapseln und zu schützen. Das ist irgendwo schade. Andererseits ist sie so etabliert, dass sie sich selbst so leisten kann, wie sie es will. Und man ist dankbar für jedes deutsche „Dankeschön“, das sie nach jedem Titel bekundet.
Die Musik war toll und reißt auch mich zurück in meine musikalische Sturm-und-Drang-Zeit Ende der 90er zurück, als man gerade Abitur machte und sich selbst unter anderem über die Musik beweisen wollte, dass man was besonderes ist. Ich wünschte mir aber, dass sie als jung gebliebene Elfe im gelben Kleid über die Bühne fliegen würde wie beim MTV Unplugged Konzert 1994. So habe ich sie in meine Erinnerung zementiert und merke, dass ich mir nur widerwillig eingestehe, dass diese Zeit nunmehr Nostalgie ist, die zwar viele erwarten, aber die auch eben ihre Zeit hatte. Ich hab alles gesehen, was ich von Björk sehen wollte. Die stetige Wiederholung dessen, was ich als junger Mensch hatte reicht mir. Das Rad dreht sich weiter. Alles Neue, was sie produziert, muss sich automatisch an dem Jugendgefühl von damals messen. Neu will doch keiner. Dabei stand Björk in den 90ern doch für das widerstrebende Neue. Ist doch irgendwie widersprüchlich. Eine Björk würde wollen, dass ich die Veränderung als den Kern begreife, glaube ich. Aber dass ich auch klar das Kunstprodukt von der Person trenne. Für den heutigen Abend wird die Illusion aufrecht erhalten, es könne so weitergehen wie als Jugendlicher. Einerseits weil Björk sich mit ihrem Produkt ummantelt, andererseits weil kein Stück ihres aktuellen Albums gespielt wird. Es würde nur müde beklatscht werden wie das ewig getragene, schwermütige „Black Lake“, das in stetiger Erwartung eines baldigen Endes immer wieder unpassend zwischenbeklatscht wurde.
Das Konzert ist zu Ende. Eine Gestalt ohne Gesicht, gestaltet wie ein Blumenstrauß rennt nach vorn und will die Setlist. Nach einigem Betteln erhält er sie und präsentiert sie stolz seinem Publikum zur Eigenpromotion. Ein Mini-Björk, der seine Aufmerksamkeit genießt und für seine exzentrische Erscheinung ein paar Minuten lang gefeiert wird wie ein Star, bis wir dann alle die steilen Stufen hinauf in alle Richtungen in die Nacht entschwinden, den kleinen Zauber mit nach Hause nehmen und hoffentlich nicht nur ins Instagram-Fotoalbum wegheften mit der Hoffnung auf mehr Likes.