Circular de Lanzarote

06.09.2021 Famara

  

Drei weitere Mails bekomme ich noch von Elena, der Besitzerin des Flor de Loto, in denen sie mir eine gute Nacht wünscht, erklärt, dass im Nachtschränkchen Taschenlampen versteckt sind "in case you have to illuminate the stars at night", und der Hinweis auf "softer and harder" Kissen im Schrank neben dem Bett. Mensch, so langsam entwickelt sich eine richtige Brieffreundschaft, wenn das so weitergeht. Sie geht auch gerne wandern und ist angetan davon, dass ich die Insel zu Fuß unrunden will. Leider werden wir uns nicht kennenlernen, weil heute der Klempner kommt. Die 10 Booking.com-Punkte hat sie sich aber sehr sehr redlich erarbeitet. Weniger ist durchaus mehr. Ich hab ihr um 24 Uhr nurmehr wegen 'nem schlechten Gewissen geantwortet. Aber hey, ich kann bis 11 Uhr bleiben, vertilge noch zwei Bananen und auf geht's.
Nächster Halt: Haria. (menno, mein Handy kann kein Apostroph auf dem i. Also Obacht bezüglich der Pronunciación, ne. Beim ó gehts. Pöh.). Das Örtchen liegt in einem Talkessel, flankiert von der Steilküstenwand im Westen und den Vulkanen im Osten. Es ist glaube ich der bislang im Stile Manriques am strengsten gepflegte Ort. Am südlichen Ortsende erfahre ich auch warum: Direkt am GR 131 liegt völlig unscheinbar in Palmen versteckt Manriques Wohnhaus. Na was für ein Zufall. Es ist mittlerweile ein Museum. Nadenn, ich wollte schon immer wissen, wie so ne Künstlertoilette aussieht, also rein. Die üblichen 10 Euro später stehe ich in seinem Badezimmer und bestaune eine Toilette. Daneben sein Schlafzimmer, das Wohnzimmer, die Küche, ein Klo in einem Spiegelzimmer, den Pool und sein Atelier. Hmm... ziemlich normal und relativ bescheiden das alles hier im Vergleich zu seinen Touristenträumen in den Lavastromlöchern. Er hat viel gemalt und auch sonst viel Interieur gestaltet, so auch sein Heim. Aber es ist gar nicht spacig, sondern saugemütlich. Abgesehen davon, dass die Sachen und die Geräte im Haus nach 30 Jahren Stillstand merklich Patina angesetzt haben, könnte er mit seinen heute eigentlich 102 Jahren glatt zur Tür hereinkommen. Es wirkt komisch, Alltagsgegenstände wie Bosch-Schraubendreher, Ölfarben mit Ablaufdatum 1999, Plastikstühle, Telefone und Sony Fernsehapparate als Museumsstücke anzusehen, die man nicht anfassen darf. Ein bisschen ehrfürchtig werde ich im Atelier, als ich bemerke, dass ich auf alten Farbklecksen auf dem Boden herumlaufe, als wären sie gerade erst hingekleckst worden. Daneben stehen unvollendete Bilder mit eben diesen Farben. Offenkundig hatte er was für Picasso übrig. Im Haus hängt einiges von ihm herum. Das spiegelt sich meines Erachtens auch in seiner Kunst wider, die auch großformatig in seinem Schlafzimmer oder auf Hauswänden und Autos prangt. Mir kommt er aber dagegen eher wie ein Künstler zum Anfassen vor. Wegweisend in Punkto Kunst... weiß nicht. Lanzarote hat(te) er aber wohl im Griff. Irgendwie ist es frevelhaft, dass so ein tolles Haus seine natürliche Funktion mit dem Tod gänzlich einbüßt und zu einer einstaubenden Pharaonenpyramide verkommt, die wohlmöglich viel länger als sein Leben genau das bleibt und langsam verwittert, wie die altersvergilbten Telefone und Klodeckel im Haus.
Vierzig Minuten später bin ich auch schon wieder draußen. Es geht weiter, hinauf auf die Steilklippen von Famara, nur vom Inland aus. So verlasse ich den GR 131 wieder in Richung Küste. Ziel und wortwörtlicher Höhepunkt ist Peñas del Chache, die mit 671 Metern höchste Erhebung der Insel, mit zwei militärischen Radaren oben drauf, die ich schon seit Tagen entlang des Küstenwegs vom Weiten sehen konnte. Man kommt nicht hin, Sperrgebiet. Aber man kommt nahe heran. Soll mir reichen. Hier oben fällt mir mit Blick nach Norden auf, dass mein Versagerberg von gestern und der Ursprung des Lavatunnels, Monte Corona, auch auf einem Bild meiner Eltern von 1972 zu sehen ist. Ich kann es nicht nachstellen, aber es ist eindeutig identifiziert: Papa auf dem Bild sitzt allem Anschein nach am Mirador los Valles (weißes Gebäude links) an der an der LZ-10. Nachstellen kann ich es leider nicht. Der Punkt ist gesperrt. Erstaunlich ist, wie weit der Ort Máguez in 50 Jahren den Berg hinauf gebaut wurde. Da ist im Papabild noch nichts zu sehen. Wohl aber der weiße Strich rechts unten am Berg, der hinter Papas Rücken verschwindet. Das ist ein gewaltiges Wassersammelbecken.
Mich zieht es weiter an die Steilwand zur Erhebung El Castillejo. Hier hoffe ich auf einen spektakulären Blick 615 Meter hinunter nach Famara. Und der Blick ist heftig. Senkrecht unter mir tut sich die riesige Strandbucht als türikses Band entlang der Steilküste auf und weiter hinten La Graciosa. Vor 25 Jahren war hier stetig heftige Brandung. Jetzt, wahrscheinlich jahreszeitbedingt, ist es fast glatt. Miniaturautos stehen hier und da an einer Piste. Strandburgen aus Wackersteinen, die von oben wie Minivulkänchen aussehen, zeugen von den hiesigen Vorlieben für das Ausleben eingepferchter Nacktheit. Im flachen Wasser schwimmen manchmal unscharfe, schwarze Flecken, die sich teilen, um danach wieder zusammenzufinden. Was ist das denn?! Kurios. Ich muss hier erst einmal herunter kommen. Und ein erschreckter Blick in die Wasserflasche lässt mich innerlich mit den Augen rollen. Mal wieder zu wenig Trinken. Famara sieht echt noch weit weg aus von hier oben und Wasser brauche ich hier nicht zufällig erwarten. Nadann, du weißt ja, wie das geht: Mund zu und ab dafür. Glücklicherweise ist mein virutell erkannter Weg im Gegensatz zu dem gesterigen wirklich ein guter Wanderweg hinab zur Küste. Erstaunlich grün ist es hier. Es wird wohl das einzige Kerbtal auf meiner Route sein. Soll mir recht sein. Mit den zu erwartenden Dehydrierungskopfschmerzen erreiche ich die alte, norwegische Ferienanlage mit ihren Halbmondhäuschen, die mittlerweile gänzlich in viele private Hände aufgeteilt wurde. Ich brauch Trinken. Wo ist Trinken? Ein durchrostetes Supermercadoschild am oberen Ende der Siedlung sagt "da lang". Denkste, vor 30 Jahren vielleicht. Jetzt ist "da" eine riesige Sanddüne und eine Betonruine. Am Ortsrand vom eigentlichen Famara ist er dann schließlich. 3 Liter Blubberwasser später kann ich wieder klar denken und widme mich dem Strand. Voll ist es hier. Tonnenweise Mietwagen. Alle sind da. Aber es verteilt sich an der gewaltigen, kilometerlangen Bucht. Ich spring ins Wasser. Schweiß wegschwmimmen und Küste vom Wasser aus ablichten. Direkt vor mir taucht unvermittelt eine dieser schwarzen Wolken im Wasser auf und kommt wie ein waberndes Monster auf mich zu. Es ist ein riesiger Fischschwarm! Potztausend. Die Kinder quietschen erschreckt und laufen weg. Ich halte drauf. Sowas hab ich noch nie gesehen.
Meine Unterkunft ist ein Wohnloch am Ende des Ortes direkt an der Küste. Ich suche abends das Restaurant, in dem wir früher waren. Ich finde eins, das es sein könnte. Aber da ist jetzt irgendwas anderes drin. Ich finde eins an der Promenade. Ich will endlich Fisch und Schrumpelkartoffeln und dieser Ort schmeckt und riecht salzig genug dafür, um was richtig Leckeres zu erwarten. Ist auch so! Beim Essen schaue ich auf die Bucht. Mittlerweile ist Tiefebbe. Inmitten der bucht taucht ein kleines rostiges Etwas auf, das mal der äußere Teil einer Schiffsbrücke gewesen sein könnte. Ich erinnere mich: Damals ragten noch ein halbes, gestrandetes Schiff und zwei Gestänge empor. Na viel ist da nicht geblieben nach 25 Jahren.
Tja und so sitze ich jetzt hier an der Hafenpromenade auf einer Bank und schaue, wie es rapide dunkel wird. Auf der gegenüberliegenden, unbebauten Seite der Bucht zieht sich eine kleine Scheinwerferkette langsam auf der Piste in Richtung Ort zurück. Wohl genug nackt gewesen für heute, der Bauch muss voll. Ob hier wohl auch Ich-wohne-hier-Schilder in die Strandburgen aufgestellt werden wie auf Fuerteventura? Morgen hab ich mir wanderfrei verordnet. Dann guck ich doch mal und schreib drunter: "Hab Hausfriedensbruch begangen, musste dringend mal auf euer Klo, sorry." Mal schauen, was mir sonst noch einfällt. Den Tisch im Restaurant von heute habe ich jedenfalls für morgen gleich reserviert, das war einfach zu gut.