Circular de Lanzarote

02.09.2021 Guatiza

  

Der Ort vermittelt nur allein beim Anblick ein billiges Völlegefühl im Magen, wenn morgens beim Rausgehen in den Strandbars Croissants mit Sangria serviert werden. Vielleicht liegt mir auch nur das Fernsehprogramm von gestern Abend quer im Magen. Explosiv auf RTL. Mehr deutsches Fernsehen gabs nicht. Berichtet wurde unter anderem über ein lustiges Hundevideo bei TicToc, bei dem ein Wauwau herzzerreißend schön zu den Akkorden des Herrchens auf dem Keyboard mitjaulte, gefolgt von der mordlustigen Jenny, 18, aus Ohio, USA: "Wie kann ein Mensch nur so schlecht sein... wir fragen die Nachbarn." TicToc als Quelle für Berichterstattungen im Fernsehen... die Sprache der nächsten Generation muss anscheinend für die Generation 50+ - wer sonst schaut freiwillig Explosiv - erst durch einen lustigen Fernsehmoderator verständlich kommentiert werden, währenddessen die nächste Generation schon 140 Videos weiter geswiped hat... und beim Blick aus dem Fenster fügt sich die hiesige Strandpromenade ins vergleichsweise zeitlupenartige Flimmerkistenbild nahtlos ein.
Zum Glück lasse ich heute die Plastikgirlande hinter mir. Nach ein paar Bauruinen der Nuller Jahre am Ortsrand tauche ich endlich in die bekannte Wüstenlandschaft ein. Es unterscheidet sich kaum von Fuerteventura, nur dass mir die rotweißen Markierungen dann doch fehlen. Eine Piste schlängelt sich entlang der Ostküste und ebnet mir den Weg weiter in Richtung Norden und ich bin allein. Also Klamotten aus, Sonnencreme an. Ich nehme mir Zeit. Ich habe mich regelrecht nach Staubigem, heißer Sonne und Kargheit gesehnt, merke ich. Das war auf den letzten Inseln nicht unbedingt so. Ich denke, der Alltag ist manchmal eine spur zu bunt geworden.
Die Piste und die Seitenabstecher führen allesamt ins Nichts. Trotzdem sind viele Spuren darauf zu sehen. Von Quads augenscheinlich. Kaum gedacht, kommt mir eine Kolonne von 5 Quads entgegen mit jungen Leuten, die Skibrillen und GoPros aufhaben und eine Menge Staub aufwirbeln. Mir gefällt das actionlastige Urlauben irgendwie nicht. Säße ich auf so einem Ding, dächte ich die ganze Zeit, wie schön es wäre, wenn man hier wandern ginge, denke ich mir und realisiere, dass ich hier wandere. Da bin ich aber froh! Und während ich saufroh vor mich hinschländere, kommt mir ein kleiner rostiger Pfeiler entgegen. Nanu? Ist das ein Wanderschild? Das Relikt wird intensiv untersucht. Leider keine Hinweise, nur Rost. An einer Weggabelung steht ein Zweiter, an der ein kleiner Weg weg von der Piste und näher zur Küste führt. Ein Indiz: das muss ein Wanderwegweiser gewesen sein. Also folge ich dem nicht deutbaren Zeichen, bis ich tatsächlich auf einen Gradweg entlang des Küstenabbruchs stoße, der verdächtige, GR-architektonische Merkmale aufweist: Steinmännchen und zur Seite geschobene Steine, ein paar künstliche Treppenstufen. Das muss er sein! Zwei drei Kilometer später dann zeigen schließlich verwitterte, blaue Farbkleckse auf größeren Steinen den Weg an. Hmmm... blaue Punkte passen nicht. Sie müssten Rotweiß sein. Aber das hier war definitiv ein offizieller Wanderweg, der aber nicht in Schuss gehalten wird. Immer wieder kommen stellen, an denen der Weg nur noch durch leichte Farbunterschiede des Sandes zu erahnen ist. Spannend. Er stößt kurz vor meinem Zielort Guatiza, der auf einer Anhöhe liegt, wieder auf eine Piste. Wieder ein verwitterter Pfeiler, diesmal aber mit fast gänzlich verblichener Plakette, die tatsächlich eine Wegbezeichnung verrät: PR-LZ 04. Kein GR also, aber ein Kleiner, der allem Anschein nach Teilstück des GR sein könnte. Soll mir Recht sein. Ich umrunde die Insel auch gerne auf aufgegebenen Teilstücken. Jedenfalls bestätigen sich die Bilder von Google Earth, die offensichtlich Wege entlang der Küste erahnen lassen und geben mir Mut, dass es so weitergehen kann. Im von Kakteenfeldern durchsetzten Örtchen Guatiza angekommen steuere ich den Supermarkt für kaltes Blubberwasser und Kekse an, mit denen ich mich auf einem weißen Betonplatz vor der Kirche in den Schatten setze und die Zeit abwarte. 16 Uhr kann ich in die Unterkunft. Zeit genug, um auf den Betonbänken Löcher in den blauen Himmel zu starren. Hmm... Kanaren lieben Beton. Bodenversiegelung... das spielt hier keine Rolle, so wenig, wie es regnet. Das Dorf hier ist toll hergemacht worden mit all dem Beton und sieht so geschlossen und kompakt aus, wie ein gigantisches Haus ohne Dach. Der Wind weht heiß umher. Niemand ist hier. Ich probiere die neuen Funktionen meines Handys erstmal alle aus. Ich musste schweren Herzens mein altes Z5 aufgeben, nur weil es softwaretechnisch als unbrauchbar diffamiert und damit zu Edelschrott deklassiert wird. Es funktioniert. Aber der kapitalistische Gedanke hinter dem technischen Fortschritt will, dass es nicht mehr funktioniert. Sonst könnte man ja merken, dass Handys 20 Jahre anstatt 3-4 Jahre standhalten können. Doch ich realisiere, dass ich zur Aufgabe gezwungen bin, denn abkoppeln will ich mich auch nicht von informatorischer und digitaler Veränderung. Das geht alles so rasend schnell, da kann Verachtung dessen sehr schnell gefährlich alt werden lassen. Und ich habe beschlossen, als 80-jähiger jung und schrullig in der Mitte der nächsten Generationen zu enden.
Aber es macht ja auch Spaß. Mein neues Brikett hat drei Kameras. Weitwinkel ist toll. Gleich mal Selfies im Schatten ausprobieren... und dann ist es auf einmal 16 Uhr.
Mein zu Hause von heute liegt am Dorfrand. Eine ältere Frau kommt mir auf der Straße entgegen, um den Müll wegzubringen und identifiziert mich sofort als den erwarteten Oliver. Dianne heißt sie und ist Britin, über 80 Jahre alt, wirkt viel jünger und wohnt seit 20 Jahren in Puerto del Carmen. Eigentlich ist das B&B die Einnahmequelle ihrer Tochter aber die ist leider auf Gran Canaria im Krankenhaus. Also hilft sie hier oben aus. Sie freut sich. Ihr macht der Job sichtlich Spaß, auch wenn sie es sehr anstrengend findet. Morgen gibt's auch Frühstück von ihr zubereitet. Auch sie ist damals ausgewandert. Das ist hier mittlerweile normal, sagt sie. Sie hat viele deutsche und italienische Freunde hier. Aber man spricht spanisch untereinander, mehr als interkulturelles Mittel zum Zweck. Sie wird hellhörig, als ich erwähne, dass meine Eltern 1972 in Puerto del Carmen gewohnt haben. Sie wohnt direkt im Hafen der Altstadt und weiß sofort, welche Unterkunft ich meine, als ich die von meinen Eltern beschreibe. Sie existiert wohl noch. Das will ich sehen.
Das Haus hier jedenfalls ist liebevoll hergerichtet mit britisch angehauchtem Sinn für Kitsch, wie mir scheint. Gepaart mit der Lebenseinstellung "Du bist mein Freund, solange du mir nicht das Gegenteil zeigst", führt das sofort zu einem behanglichen, heimischen Gefühl der Geborgenheit im Fremden. Hier will ich bleiben.