GR131 2019 Fuerteventura

08.11.2019 Morro Jable

  

Während ich aufwache, ist es noch dunkel, aber schon kurz vor sieben. Ich liege und grübel herum. Dabei wird mir bewusst, dass ich in den Supermärkten gar nicht mehr die 5L Kanister Trinkwasser finde, weil das salzwasseraufbereitete Leitungswasser ungenießbar ist. In der Tat ist der Geschmack aus der Leitung außerordentlich neutral geworden, ich habe mehrmals meine Flasche damit aufgefüllt. Man hat wohl eine sinnvollere Aufbereitung gefunden, außer Chlor wie in einer Badeanstalt. Ich bin träge, gehe aber doch irgendwann zum Frühstücksbuffet im Ambiente einer Bahnhofseingangshalle. Man drängelt sich um alles. Ja, so romantisch macht man Urlaub. Hauptsache alles kriegen und davon viel und unbegrenzt. Vor 15 Jahren wäre das noch ein Paradies für mich gewesen. Jetzt ekelt mich Rührei ausm Tetrapack an. Doch eins gibts, das mich für ein paar Minuten zurück nach Ribadello 2012 versetzt: Es gibt Churros mit dicker fetter Trinkschokolade. Das Buffet ist gerettet njam...
Es ist wieder wanderbewölkt. Mein Weg geht jetzt bis Morro Jable ausschließlich an der Ostküste entlang. Das Wasser tobt, schon in der Nacht konnte man es dröhnen hören. Jetzt am Tag sieht man es sogar in Form einer temporären Landschaft: Entlag der gesamten Küstenlinie erstreckt sich ein bis zu 1m hoher Abbruch der Sandküste. Teilweise ist der Sand gänzlich weggespült.
Zum ersten Mal erfüllt mein Wander-Seesack seine natürliche Funktion. Mehrmals muss ich um die Klippen und durch die Lagune hinter der großen Sandbank am Gorriones schwimmen, weil das Wasser so hoch kommt. Er schwimmt wie eine Boje am Handgelenk hinter mir her und bleibt tatsächlich wasserdicht. Bis Jandía hat sich die Landschaft abgesehen von einer Hotelrohbauruine kaum verändert. Es existieren immer noch viele Steinhügelburgen, in denen sich vor allem nackte Sonnenanbeter vor den Blicken schützen. Jetzt nach 25 Jahren ist das alles nicht mehr so sehr getrennt wie damals. Es gibt keinen geduldeten FKK-Bereich abseits der Hotelburgen. Vielmehr vermischt sich alles durchweg. Hauptsache man zieht was über, wenn man zu den vielen gleichartig aufgestellten Strandbars geht. Ich finde es gut, dass das endlich unverkampft geworden ist, zumal ich selbst diesbezüglich wenige Hemmungen habe. Ich habe gerne nichts an. In Spanien kann man aus legaler Sicht für Nacktheit in der Öffentlichkeit nicht belangt werden. Deutschland ist mit seinem Gummiparagraphen bei potentieller Erregung öffentlichen Ärgernisses eher eine juristische Ausnahme. Was das heißen soll, ist subjektive Auslegungssache. Und gerade in Jandía sind es eher jüngere Leute, die die Hüllen fallen lassen, um in die Wellen zu preschen. Das alternde, deutsche FKK-Volk hat sich selbst und ein Stück mentales Deutschland sprichwörtlich in die Steinburgen eingemauert. Viele der festungsgleichen Burgen sind hergerichtet wie Vorgärten. Eine Schranke aus einer Schirmständerstange und ein Schild am Eingang sagen "Hier wohne ich und zwar bis zum 26.10.! Betreten verboten!" Auch Skandinavier machen da mit. Man bemalt die Steine mit Sonnengesichtern, stellt Windspiele auf, hisst kleine Plastikflaggen oder sprüht 1860 München Wappen an die Steine, um auch die Machtverhältnisse klarzustellen. Sonnengegerbte, alte Rücksäcke, Sonnenschirmständer und Hotelhandtücher werden zurückgelassen, um als Abschreckungsmaßnahme für die Blicke der gewöhnlichen Strandnormaden einen belebten Eindruck zu fingieren. Es scheint ein Grundbedürfnis von Menschen, vor allem aber von deutschen FKK-Touristen, zu sein, Dinge auch in der Ferne in Besitz zu nehmen, um sich heimisch zu fühlen. Warum muss man das so dringend tun? Ist sonst die eigene Daseinsberechtigung gefährdet? Scheut man Veränderung so sehr? Sind Schilder, Knigge und ein Rechtsempfinden so sehr Teil unserer Gesellschaft geworden, dass wir sie auch dann nicht mehr ablegen können, wenn sie keine Bewandnis haben sollten? Warum all das nackt? Weil man sich eigentlich von erdrückenden, heimischen gesellschaftlichen Zwängen befreien will? Nackt und frei sein, wo man nicht frei ist? So sitzt man als braungebrannter, nackter Herrscher dann doch auf seinem wasserumspülten Steinhaufenthron und ist pausenlos damit beschäftigt die errungenen Habseligkeiten vor der Flut zu schützen, die nicht käme, wenn man sie nicht erwarten würde. Lass los und du bekommst die ganze Insel.
Am Ende des Tages holen sich eh die Erdmännchen den Rest und erobern die Burgen zurück. Und ich erreiche gegen Nachmittag nach vielen ausgiebigen, nackten Badesessions schließlich den Leuchtturm von Morro Jable, an dem auch mein Refugium der nächsten zwei Tage liegt, das Cactus Garden. Ein eher unscheinbares Betonlabyrinth, das jedoch auf der 6. und 9. Etage einen Dachpool hat und ne Sauna. Aaah herrlich. Ich hab zwangsweise Halbpension und bekomme eins dieser grässlichen All Inclusive Bändchen in Babyblau. Auch das Restaurant ist eher eine Werkskantine, auch wenn das hier 4 Sterne sind. Ich bin mir sicher, dass viele ankreuzen würden, diese Atmosphäre nicht mit Urlaubsflair in Verbindung zu bringen. "No beach clothing at the Buffet please!", stoppt mich die Hoteldame. Dinneretikette. Tja. Jetzt hab ich ein Problem. Wieder so eine virtuelle Grenze. Was heißt denn das? Ich will doch gar nicht nackt am Tisch sitzen. "No Flip Flops, no Shorts." Das ist dumm. Sind meine schwarzen Wüstenrennsandalen Flip Flops? Sie ist sich nicht sicher, aber gibt das OK. "They don't flip." Sie haben ja einen Fersenriemen. Aha. Fersenriemen ist also angezogen genug am Fuß. Aber ich hab auch nur meine kurze Jeans. Doch auch mein schwarzer, türkischer Wickelrock, der eigentlich als Sauna- und Strandtuch dient, stimmt sie milde. Umwickelt reicht er mir bis zum Fußknöchel, sieht aus wie ne Alladinhose, wenn man nicht genau hinschaut und ich komme ungehindert zu meinem Essen. Das nenne ich mal Etikettenschwindel.